Die Kritik zu „The Amazing Spider-Man“ haben wir mit den Worten begonnen: „Andrew Garfield ist ein genauso guter Spider-Man wie Tobey Maguire.“ Und nach dem erneut von „(500) Days of Summer“-Regisseur Marc Webb inszenierten Sequel „The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro“ gibt es keinen Anlass, diese Aussage in Frage zu stellen. Zwar entziehen sich die Macher dem Alles-noch-größer-Mantra der Hollywood-Fortsetzungen nicht und bauen das Comic-Universum des Spinnenhelden weiter aus, aber der tragische Kern von Peter Parkers Geschichte wird trotzdem weiterhin im Blick behalten und so kann auch Garfield (diesmal ohne die Aura des rebellischen Teenager-Skaters) erneut glänzen. Und die zusätzliche Herausforderung, in diesem Mittelteil zugleich die Handlungsfäden aus dem ersten Film weiterspinnen und das große geplante Finale in „The Amazing Spider-Man 3“ vorbereiten zu müssen, meistert Webb überzeugend. Sein Film wirkt nicht wie eine bloße Brücke zwischen zwei anderen Teilen, sondern entwickelt sich zu einem ungewöhnlich emotionalen Superhelden-Epos.
Peter Parker alias Spider-Man (Andrew Garfield) hat dem sterbenden Captain Stacy (Denis Leary) geschworen, sich zukünftig von dessen Tochter Gwen (Emma Stone) fernzuhalten, um sie nicht auch noch in Gefahr zu bringen, aber er hält sich zunächst nicht an das Versprechen. Die Schuldgefühle nagen an ihm und am Tag des gemeinsamen Highschool-Abschlusses trennt sich das Paar schließlich. Als es einige Monate später endlich zu einer Aussprache kommt, funkt ihnen der nach einem Unfall mit Zitteraalen zu Electro mutierte Oscorp-Techniker Max Dillon (Jamie Foxx) dazwischen, der seine neugewonnenen Kräfte noch nicht kontrollieren kann und so den halben Times Square in Schutt und Asche legt. Zwar kommt Spider-Man schließlich noch die rettende Idee, wie er den bläulich schimmernden Strommann aufhalten kann, aber da droht auch schon die nächste Gefahr: Peters bester Freund aus Kindertagen Harry Osborne (Dane DeHaan) erbt von seinem Vater nicht nur den Megakonzern Oscorp, sondern auch eine tödliche Krankheit. Nun gibt es für ihn nur noch eine Hoffnung auf Heilung: das Blut von Spider-Man…
Nach dem Titellogo stürzt sich Spider-Man direkt in eine erste Action-Sequenz: Der Held schwingt durch New Yorks Häuserschluchten und sofort fallen die noch einmal deutlich plastischer als im Vorgänger wirkenden 3D-Bilder auf. Und wenn Spider-Man den mit einem gekaperten Oscorp-Transporter samt radioaktivem Material durch Manhattan rasenden Rhino (Paul Giamatti) aufzuhalten versucht, begeistert vor allem der in Fülle vorhandene Lausbuben-Witz (vor dem Einschlagen der Windschutzscheibe wird erstmal höflich angeklopft), für den seine Fans Spider-Man so lieben. Dabei bleibt Andrew Garfield („The Social Network“) mit seiner völlig unpathetischen Art auch in der Fortsetzung der liebenswert-natürliche Superheld von nebenan. Von allen Marvel-Heroen kann man sich mit ihm wohl am leichtesten identifizieren, zumal auch die romantischen Kabbeleien mit Emma Stone („Einfach zu haben“) als Gwen Stacy erneut ebenso brillant-schlagfertig geschrieben wie gespielt sind: Wenn in einem Comic-Blockbuster eine Beziehungsaussprache genauso aufregend ausfällt wie die kurz darauf folgende Zerstörung des New Yorker Times Square, dann müssen die Macher ja irgendwas richtig gemacht haben.
Obwohl er letztlich nur ein Handlanger von Harry Osborn ist, zählt der sogar im Titel erwähnte Electro zu den faszinierenderen Schurken im Marvel-Universum – und das liegt nicht nur an der effektvollen Computeranimation der zerstörerischen Kräfte des unter Starkstrom stehenden Mutanten, sondern auch und vor allem an Oscar-Preisträger Jamie Foxx („Ray“), der in dieser Rolle seine Talente als dramatischer Schauspieler und Stand-up-Komiker perfekt kombiniert: Max Dillon ist ein totaler Loser mit fragwürdiger Frisur, den seine Kollegen bei Oscorp regelmäßig als Schuhabtreter missbrauchen und der zu einem besessenen Spider-Man-Fan wird, nachdem der Spinnenmann ihm nicht nur das Leben gerettet, sondern anschließend sogar noch ein paar Worte mit ihm gewechselt hat. Foxx legt seinen Part als comichaft überhöhte Verlierer-Karikatur an, verleiht dem ständig Übersehenen aber gleichzeitig so viel menschliche Tragik, dass man zumindest bei ihrem ersten Duell eher Electro als Spider-Man die Daumen drückt. Dane DeHaan („Chronicle“) spielt den todkranken Konzernerben und kommenden Green Goblin Harry Osborn unterdessen mit einem überzeugenden fanatischen Wahn, kann sich aber noch nicht endgültig von James Francos Darstellung der Rolle in Sam Raimis „Spider-Man“-Trilogie lösen - genau wie die diesmal nur in wenigen Szenen als Harrys Assistentin Felicia auftretende Felicity Jones („Like Crazy“) handelt es sich hier wohl eher um eine Vorarbeit zu „The Amazing Spider-Man 3“.
„The Amazing Spider-Man 4“ sowie Spin-offs zu Venom und den Sinister Six sind zwar bereits angekündigt, aber Marc Webb betrachtet die ersten drei Teile der Reihe trotzdem als eigene Trilogie. Und da heißt es für den Regisseur nun ganz schön jonglieren: In diesem zweiten Teil muss er sowohl das im Vorgänger angedeutete Mysterium um Peters verschollene Eltern sinnvoll aufgreifen als auch die Bösewicht-Truppe Sinister Six zumindest teilweise für die Fortsetzungen und Ableger an den Start bringen – und dazu will er natürlich noch eine eigene Geschichte erzählen. Aber auch wenn das Schicksal von Peters Vater Richard (Campbell Scott) in Anbetracht der dann doch überschaubaren Auswirkungen auf das aktuelle Geschehen etwas zu viel Raum erhält (gleich die ersten zehn Minuten sind eine ausführliche Rückblende), hält Webb insgesamt doch die Waage zwischen Rückblick, Vorbereitung und dem Hier und Jetzt, weshalb sich trotz der stolzen Laufzeit von mehr als 140 Minuten nur sehr selten Längen einschleichen. Und statt wie in den Filmen der Marvel Studios („Captain America“, „Thor“ & Co.) einfach im Abspann noch eine bestenfalls lose mit dem Rest zusammenhängende Szene zu platzieren, um den Hype für den folgenden Film anzufeuern, verwendet Webb gleich die ganze finale Viertelstunde, um unsere Vorfreude auf „The Amazing Spider-Man 3“ zu schüren: Das wirkt nicht nur organischer, es ist auch wirkungsvoller als ein einfach angeklatschter Blick auf den nächsten Gegenspieler.
Fazit: „The Amazing Spider-Man 2: Rise of Electro“ bietet dem üblichen Sequel-Mantra folgend noch mehr Action und Humor als der erste Auftritt von Andrew Garfield im Spinnenkostüm, die größte Stärke bleibt aber erneut die dramatische Liebesgeschichte zwischen Peter Parker und Gwen Stacy.
(Anmerkung vom späteren Ich des Autors: Wobei der Film im Rückblick doch sehr darunter leidet, dass die vielen vorbereitenden Szenen für den Trilogie-Abschluss völlig für die Katz waren, weil dieser ja bekanntlich dann doch nie gedreht wurde.)
In einer früheren Version dieser Kritik hatte „The Amazing Spider-Man 2" noch 4 von 5 Sternen. Die ausführliche Begründung für die Änderung der Sternewertung könnt ihr in diesem Artikel nachlesen.