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    Auf der anderen Seite
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Auf der anderen Seite
    Von Daniela Leistikow

    Fatih Akin ist „Auf der anderen Seite". Zwar nicht im Sinne seines gleichnamigen Films, dem nach Gegen die Wand zweiten Teil seiner „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie. Aber doch was sein filmisches Schaffen betrifft: Nach der jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase des viel bejubelten ersten Teils über die Liebe, ist Akins Drama über den Tod „Auf der anderen Seite" das gereifte Werk eines Regisseurs, der das Newcomer-Label erfolgreich abgeschüttelt hat. Die minimalistische Emotionalität des Films sagt viel, ohne alles aussprechen zu müssen. Die Themen zwischen Türkei und Deutschland, Eltern und Kind, Leben und Tod werden auf meisterhafte Weise verknüpft, ohne sich im Dickicht der sechs komplexen Schicksale zu verheddern, von denen Akin erzählt.

    Der pensionierte Witwer Ali (Tuncel Kurtiz) vertreibt sich die Einsamkeit in Hamburger Bordellen, bis er Yeter (Nursel Köse, Kebab Connection) in eben solch einem Etablissement begegnet: Gegen eine monatliche Unterstützung in Höhe ihres bisherigen Lohns als Hure soll sie mit ihm zusammenleben. Alis gebildeter Sohn Nejat (Baki Davrak), der Germanistik an der Universität Hamburg unterrichtet, findet die Wahl seines sturen alten Herren mehr als eigenartig. Erst als er erfährt, dass Yeter den Großteil ihres Geldes zu ihrer Tochter Ayten (Nurgül Yesilcay) nach Istanbul schickt, um deren Studium zu finanzieren, beginnt er sie zu respektieren. Als Yeter auf tragische Weise ums Leben kommt, begibt sich Nejat auf die Suche nach Ayten. Doch die politische Aktivistin ist längst aus der Türkei geflohen und hat in Deutschland bei Lotte (Patrycia Ziolkowska, Solino) und ihrer Mutter Susanne (Hanna Schygulla, Winterreise) Zuflucht gefunden. Es braucht mehr als eine Reise, bis die Protagonisten schließlich zueinander finden… wenn auch auf unerwartete Weise.

    Es war ein weiter Weg von „Kurz und schmerzlos“ – Akins erstem Spielfilm, mit dem er 1998 den Bronzenen Leoparden beim Filmfestival von Locarno und den Bayerischen Filmpreis als Bester Nachwuchsregisseur gewann - bis zu „Auf der anderen Seite“. Doch spätestens mit seinem siebten Film dürfte auch dem letzten klar sein: Akins Karriere wird alles andere als kurz und schmerzlos sein. Unter den Gratulanten zum Preis für das Beste Drehbuch in Cannes waren zum Beispiel Martin Scorsese, Jim Jarmusch und Volker Schlöndorff. Von Ersterem wurde Akin sogar zum Essen eingeladen. Während Kollegen und Kritiker sich einig sind über das Potential des 34-Jährigen, wird hier und da schon von einer Oscar-Nominierung gesprochen. Doch zum jetzigen Zeitpunkt handelt es sich eher um wohlmeinende Gerüchte als um durchgesickerte Fakten.Trotzdem ist unbestreitbar, dass „Auf der anderen Seite“ schon jetzt zu den besten Werken des Filmjahres gehört.

    Die Konflikte in „Auf der anderen Seite“ werden mit einer Ruhe und Präzision erzählt, die in dieser Art und Weise nur selten umgesetzt wurden. Ein schlechterer Regisseur als Akin hätte sich in den Andeutungen und Zufällen verlieren könne. Allzu leicht wäre es gewesen, Themen wie den EU-Beitritt der Türkei oder den Umgang des Landes mit politischen Aktivisten anprangernd auszuwalzen. Doch Akin findet einen Mittelweg, auf dem solches eine der Realität geschuldete Fußnoten ist, die keinen Zeigefinger benötigt. Die Bilder sind von ebenso eindringlicher Ruhe wie die Erzählung an sich und wurden von Rainer Klausmann (Solino, Gegen die Wand, Der Untergang) wunderschön lebendig und mit genau der richtigen Prise Hochglanz eingefangen. Nahtlos fügen sie sich in die gemächliche Nachdenklichkeit der Erzählung ein, die den Zuschauer gerade wegen ihrer klösterlichen Besinnlichkeit fasziniert. Zu gut passen Stimmung, Schnitt und Erzählrythmus zum Thema Tod, als dass man sich entziehen könnte. Nicht für eine Minute, noch für eine Sekunde lässt Akin uns ruhen, wie er seine Bilder ruhen lässt. Und das Erstaunlichste: Akin lässt uns das lähmende Gewicht der Trauer um einen geliebten Menschen spüren, ohne dabei ein einziges Mal in Pathos abzugleiten.

    Dabei hätte alles so anders kommen können. Kurz vor Schluss wurde das perfekte, prämierte Drehbuch zu „Auf der anderen Seite“ komplett revidiert. Als zu kompliziert erwies sich das Geplante – der Film wurde komplett umgeschnitten und in die drei Erzählblöcke mit vorausdeutenden Titeln gegliedert, die wir jetzt sehen. Doch diese ist nicht die einzige Teilung des Films: Wieder drehte Akin in Hamburg und Istanbul, Bremen komplettiert das Bühnenbild. Und als ob die Herausforderung sechs Charaktere ins rechte Licht zu setzten nicht genug gewesen wäre, erweckt Akin ganz Großstadtkind Bremen und Istanbul gleich mit zum Leben (Hamburg fiel diesmal leider der Schere des Cutters zum Opfer). Eine weitere Konstante in Akins Schaffen setzt sich in „Auf der anderen Seite“ fort: Die Familie ist immer dabei. Waren es in vorangegangenen Filmen sein Bruder oder bester Kumpel, die vor den cineastischen Karren gespannt wurden, so ist diesmal seiner Frau Monique ein Dank geschuldet, die für den hervorragenden Cast verantwortlich ist.

    Die Chemie zwischen den Hauptdarstellern ist so glaubhaft, dass es ans Magische grenzt. Die Einzelleistungen der Schauspieler schmälert das jedoch in keinster Weise. Kurtiz ist daheim in der Türkei eine feste Größe und zeigt als etwas klischeehafter Vater, warum das so ist. Yesilcays kämpfersische Rebellin hat die gleiche überzeugende Leuchtkraft, wie das Feuer in ihren Augen. Die kühle Schöne Ziolkowska steht in wunderbar scharfem Kontrast dazu. Schygullas Performance, die sich wie von der Windböe zum Orkan Szene um Szene intensiviert, bildet den Abschluss einer emotionalen Reise, die mit einer versöhnlichen Note endet.

    Fatih Akins Mühen haben sich gelohnt: „Ich habe alles in ‚Gegen die Wand’ gesteckt. Alles. Die Folge war, dass ich nach der Fertigstellung keine Ahnung hatte, was ich als nächstes machen wollte... Ich stand buchstäblich vor dem Nichts. Was ich auch immer machen wollte, ich wollte es besser machen als ‚Gegen die Wand’. Ich wollte nicht wie Frankreich sein, die, nachdem sie 1998 Fußballweltmeister wurden, 2002 in der Vorrunde sang- und klanglos ausschieden. Ich wollte mich künstlerisch weiterentwickeln. Cinematographisch sein. ‚Gegen die Wand’ toppen. Das war das Ziel." Fatih Akin ist keineswegs wie Frankreich, er ist „Auf der anderen Seite“ - der des anhaltenden und berechtigten Erfolgs.

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