Wir haben den "Die fetten Jahre sind vorbei"-Regisseur in Berlin zum Interview getroffen, um mit ihm über seinen neuen Film "Die Summe meiner einzelnen Teile", den Mangel an guten Drehbüchern und sein Verhältnis zu den Kritikern zu sprechen.
FILMSTARTS trifft... Hans Weingartner
Mit seinem radikalen Kinodebüt „Das weiße Rauschen“ und dem im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes gezeigten Nachfolger „Die fetten Jahre sind vorbei“ schwang sich der Österreicher Hans Weingartner schnell zum Hoffnungsträger des deutschen Films auf. Sein viertes Werk „Die Summe meiner einzelnen Teile“, in dem ein Mathematiker an seiner Arbeitslast zerbricht und nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie gemeinsam mit einem fremden russischen Jungen in eine Hütte im Wald zieht, startet am 2. Februar 2012 in den deutschen Kinos. Aus diesem Anlass haben wir den Filmemacher in Berlin zum Interview getroffen, um mit ihm über seine Einstellung zur Psychiatrie, den deutschen Drehbuchmangel und sein Verhältnis zu den Kritikern zu sprechen.
FILMSTARTS: Wie bist du auf die Idee gekommen, dass der kleine Junge, mit dem sich Martin im Verlauf des Films anfreundet, kein Deutsch sprechen soll?
Hans Weingartner: Ganz ehrlich? Weil in meinen bisherigen Filmen immer so wahnsinnig viel gelabert wurde und ich jetzt mal einen machen wollte, in dem wenig gesprochen wird. Außerdem passt es einfach zum mythischen, archetypischen Charakter des Films.
FILMSTARTS: Wie lief der Auswahlprozess des Jungen?
Hans Weingartner: Wir haben Russische Vereine und Organisationen in Berlin angeschrieben und dann 200 Jungen kurz gecastet und 20 näher angeschaut. Timur Massold war lustigerweise der allererste - und gleich der Beste.
FILMSTARTS: Was war für dich die wichtigste Eigenschaft an Timur?
Hans Weingartner: Seine absolute Natürlichkeit. Er denkt nicht darüber nach, was er macht, sondern tut’s einfach. Da ist es ihm auch völlig egal, ob eine Kamera läuft oder nicht. Gerade für mich als Schauspielerfetischist ist es eine Quelle des Glücks, mit so einem Naturtalent arbeiten zu dürfen. Für Peter Schneider war das natürlich eine unheimliche Herausforderung - es gibt nichts Schwierigeres, als neben einem begabten Kind zu spielen. Als Erwachsener bist du immer Schauspieler, du spielst die ganze Zeit und kannst gar nicht anders. Das Kind ist hingegen einfach. Das Problem hatte ich schon öfter, dass man bei Laien und Schauspielern immer merkt, wer der Schauspieler und wer der Laie ist. Der Schauspieler spricht anders, er verhält sich anders, das merkt man oft erst im direkten Vergleich, wenn beide im selben Bild sind. Aber bei Peter und Timur merkt man es eben nicht und da bin ich sehr stolz drauf.
Martin (Peter Schneider) und Viktor (Timur Massold) flüchten gemeinsam in den Wald.
FILMSTARTS: In deinem Langfilmdebüt „Das weiße Rauschen“ war die Psychose noch ein echter Horrortrip – sowohl für Daniel Brühl als auch für das Publikum. In „Die Summe meiner einzelnen Teile“ hat die Psychose nun zehn Jahre später fast schon etwas Zärtliches an sich. Ist das einfach ein anderer Ansatz oder hat sich an deiner Einstellung zum Thema in der Zwischenzeit etwas geändert?
Hans Weingartner: Es ist ein anderer Ansatz. In „Das weisse Rauschen“ ging es um die Innenansicht, um das Erleben einer Psychose. „Die Summe meiner einzelnen Teile“ handelt hingegen mehr von den sozialen Auswirkungen: Was bedeutet eine solche Krankheit für den Betroffenen in sozialer Hinsicht. Aber die eigentliche Frage lautet für mich, ob Martin überhaupt eine Psychose hat. Ich sehe das nämlich gar nicht unbedingt so. Für mich ist Peter vielleicht wahnsinnig, aber nicht krank. Ich kann es zumindest gut nachvollziehen, wenn jemand plötzlich anfängt, die Welt in Zahlen aufzuteilen.
FILMSTARTS: Ist es also gesund, seine eigene Wahrnehmung so auszurichten, dass man selbst am besten durchkommt, egal ob sie dann ganz anders ist als bei „normalen“ Menschen?
Hans Weingartner: Das Interessante ist ja, dass jemand nach den üblichen diagnostischen Schemata erst dann als krank gilt, wenn er seine Steuern nicht mehr zahlen kann, also keine Arbeit mehr hat und durchs soziale Raster fällt. Insofern ist es schwer, darauf eine Antwort zu geben, wenn man sich nicht einmal über die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ einig ist. Für die anderen Menschen ist Martin krank – er sieht krank aus, er ist nicht ordentlich gekleidet, er redet wirres Zeug. Aber ich finde, was er durchmacht, ist total gesund. Er hört auf seine Tabletten zu schlucken und setzt sich stattdessen mit seinem Problem auseinander. Auch dass er am Ende die Stadt verlässt und in den Wald geht, um dort den Kern seines Wesens zu finden, ist für mich etwas sehr Gesundes.
FILMSTARTS: Es gibt im Film gleich mehrere mögliche Auslöser für Martins Abdriften – die Arbeitsüberlastung, seine mathematisch-autistischen Züge und die Gewalt in seiner Kindheit. Spielen diese Faktoren alle zusammen oder ist das eher eine Verweigerung deinerseits, einen konkreten Auslöser zu benennen?
Hans Weingartner: Der endgültige Auslöser ist für mich am ehesten die Arbeitslosigkeit, dadurch kapselt sich Martin immer mehr ab und verliert sich in seinen Fantasien. Die konkrete Ursache habe ich aber bewusst offengelassen. Die Szenen mit dem gewalttätigen Vater sind zum Beispiel nur ein Alptraum von Martin, ein Spiel mit den Realitätsebenen im Film. Es ist eben kein psychiatrischer Film, auch die Störung wird nicht konkret benannt. Für mich ist es vielmehr ein philosophischer Film über grundsätzliche Fragen wie Existenz, Realität und Freundschaft. Es ging mir nie darum, irgendwelche psychologischen Profile zu entwickeln.
Endlich frei! Abseits des gestressten Großstadtttreibens findet Martin zu sich selbst.
FILMSTARTS: Bei „Das weisse Rauschen“ hatte man noch das Gefühl, die Tabletten helfen, Martin würde man hingegen raten, sie sofort wegzuwerfen. Was beide Filme trotzdem gemeinsam haben, ist die kritische Darstellung des Psychiatrie-Apparats. Stammt diese Skepsis noch aus deiner Zeit als Student der Hirnforschung?
Hans Weingartner: Ich habe sicher eine Skepsis gegenüber der massenhaften Verschreibung von Psychopharmaka, wie sie heutzutage stattfindet. Es ist unfassbar, wie viele Milliarden im Jahr mit Psychopharmaka umgesetzt werden. Drei der zehn umsatzstärksten Medikamente sind Psychopharmaka, das ist ein Riesengeschäft. Durch mein Studium habe ich gewisse Einblicke in die Zusammenhänge von Medizin und Pharmaindustrie – und die sind unglaublich eng. Die Deutsche Psychiatrische Gesellschaft hat unlängst versucht, eine Transparenz-Offensive zu starten. Alle Mitglieder sollten ihre Verbindungen zur Pharmaindustrie offenlegen, aber nur 20 haben geantwortet, woraufhin die Aktion wieder abgebrochen wurde. Die Ärzte wollten sich nicht selbst diffamieren, die Verflechtungen sind so eng, das kann man sich gar nicht vorstellen. Außerdem ist es viel billiger, jemandem eine 100-Euro-Packung Psychopharmaka in die Hand zu drücken, anstatt ihn für 1000 Euro eine Therapie machen zu lassen. Man kann also nicht nur den Ärzten einen Vorwurf machen, schließlich können sie nur die Therapien verschreiben, die sie von den Krankenkassen bezahlt bekommen – und die Krankenkassen können nur bezahlen, was sie sich leisten können. Das ist ein riesiges Dilemma. Wenn jeder Schizophrene die Therapie bekommen würde, die er eigentlich braucht, müsste man die Krankenkassenbeiträge sofort verdoppeln.
FILMSTARTS: Auch wenn es im Film nicht um ein konkretes Krankheitsbild geht, merkt man doch, dass du Ahnung von der Materie hast. Wäre es nicht hilfreich, wenn jeder Filmemacher nach dem Abi erst einmal einen herkömmlichen Beruf vom Koch bis zum Busfahrer erlernt, bevor er an die Filmschule geht?
Hans Weingartner: Das muss jeder selber wissen. Es gibt da diesen Kanadier, der ist erst 18 und macht total geile Filme (Anmerkung der Redaktion: gemeint ist „I Killed My Mother“-Regisseur Xavier Dolan). Man muss seinen Interessen folgen und mein Interesse galt erst einmal dem Gehirn - die Naturwissenschaften waren damals dringender als das Interesse, nur noch Filme zu machen. Wenn das Gehirn jung und frisch ist, sollte man möglichst viele Informationen aufsaugen, solange es noch geht.
FILMSTARTS: Inwiefern würden deine Filme wohl anders aussehen, wenn du nach dem Abitur direkt mit dem Filmstudiumbegonnen hättest?
Hans Weingartner: Ich könnte vielleicht trotzdem Regie führen, aber bestimmt nicht so gut Drehbücher schreiben.
Regisseur Hans Weingartner scheut in seinem Psycho-Drama auch vor Genre-Anklängen nicht zurück.
FILMSTARTS: Du hast für alle deine Filme die Drehbücher selbst geschrieben oder mitgeschrieben – wäre es für dich überhaupt denkbar, mal das Skript eines anderen Autors zu verfilmen?
Hans Weingartner: Unbedingt. Das war mein letzter Autorenfilm - ich mache das nie wieder oder zumindest erst mal nicht mehr. Ich möchte die nächsten zehn Jahre lang nur noch Drehbücher von anderen Leuten verfilmen. Wahrscheinlich muss ich dafür aber weg aus Deutschland, weil es hier einfach keine gibt, ich kriege nie welche zugeschickt. Und wenn doch, dann nur halbfertige Sachen. Das Problem des deutschen Films in einem Satz zusammengefasst lautet: Es gibt keine Drehbücher! Fragt doch mal Wolfgang Becker, warum er seit „Good Bye, Lenin!“ keinen Film mehr gedreht hat. Es gibt einfach kein gutes Drehbuch. Nicht einmal für Wolfgang Becker, nachdem er den größten deutschen Arthouse-Hit aller Zeiten gedreht hat – das kann doch nicht sein.
FILMSTARTS: In Deutschland traut sich halt niemand, ins Blaue hinein ein Drehbuch zu schreiben, während in Amerika praktisch jeder zweite eines in der Schreibtischschublade liegen hat…
Hans Weingartner: … und wenn mal eins davon verfilmt wird, kriegt er dafür aber auch gleich eine halbe Million Dollar. Da kann er sich dann gleich ein Haus von kaufen. In Deutschland kannst du als Erstlingsautor froh sein, wenn du nach 2 Jahren Arbeit 50.000 bekommst - und davon kann man keine Familie ernähren. Deutschland ist eben ein Fernsehland. Wieso soll ich mir den Stress antun, ein Kinodrehbuch zu schreiben, wenn ich beim Fernsehen 10.000 Euro in der Woche bekomme, wenn ich eine Serie schreibe? Wieso soll ich mich zwei Jahre für ein Kinoprojekt hinsetzen, bei dem ich dann noch nicht einmal weiß, ob es überhaupt gedreht wird? Von der Gage gibt es meist 50 Prozent erst bei Drehbeginn, von 100 Projekten werden aber nur maximal 20 tatsächlich gedreht. Und wer trägt das Risiko für die 50%? Der Produzent? Nein, der Autor! Das ganze Gerede von der Tradition des Autorenfilms ist nur Gequatsche, in Wahrheit geht’s nur um die Kohle und darum, dass man nicht davon leben kann, wenn man fürs Kino schreibt. Deswegen tut sich das auch keiner an. Nur 1% der deutschen Filmförderung fließt in die Drehbuchentwicklung, das ist total idiotisch. Denn ein gutes Drehbuch ist das Fundament jedes guten Films.
FILMSTARTS: Alle deine Filme haben Anklänge von Genrekino, in „Die Summe meiner einzelnen Teile“ drücken sich diese vor allem im Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers aus. Würdest du gerne mal einen waschechten Genrefilm drehen?
Hans Weingartner: Ich liebe das Genrekino, ich liebe den amerikanischen Film – und deswegen wird es von mir auch nie einen lupenreinen Arthouse-Film geben. Deshalb habe ich auch immer Stress mit den Kritikern, die finden das scheiße, wenn Martin im Film dem Bullen die Knarre klaut oder er durch den Wald läuft und plötzlich Musik dazukommt – das verstößt nämlich gegen die Arthouse-Regeln. Vor allem bei „Free Rainer“ haben mir die Kritiker diesen Genre-Mix übelgenommen – das waren zum Teil keine Kritiken, das waren Morddrohungen. Den Mix aus Satire, Komödie und Drama haben vor allem viele ältere Kritiker überhaupt nicht gepackt. Das junge Publikum auf YouTube findet den Film geil, die können problemlos zwischen den Genres switchen. Aber bei den Älteren muss immer von vorne bis hinten alles aus einem Guss sein, damit kann ich aber meistens nicht dienen.
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