Mit der „FILMSTARTS-Perle“ gibt euch jeweils am Sonntag ein FILMSTARTS-Redakteur eine ganz persönliche Film-Empfehlung. Das können übersehene, unbekannte oder unterschätzte Werke genauso sein wie Lieblingsfilme und Guilty Pleasures. In jedem Fall sind es ganz besondere Filme, die das Ansehen und das Wiedersehen lohnen.
Von Carsten Baumgardt
Seit wie vielen Jahren ich mir vorgenommen hatte, mich an Rainer Werner Fassbinders Gesamtwerk zu machen, kann ich nicht genau sagen, aber zweistellig ist die Zahl wohl schon. Obwohl ich im Laufe der Zeit schon fünf, sechs Filme aus dem Fernsehen archiviert hatte, kam ich bis vor kurzem nie dazu, mir wenigstens einen davon anzusehen. Doch im Februar dieses Jahres tat sich bei der Berlinale eine großartige Möglichkeit auf: Nicht nur, dass in einer Hommage Filme mit Armin Mueller-Stahl zu dessen Lebenswerk-Auszeichnung gezeigt wurden, nein, in meinem dichten Festivalterminplan eröffnete sich eines Nachmittags eine Lücke und just zu diesem Moment lief Fassbinders „Lola“. Diese bitter-böse und doch zuweilen humorvolle Dekonstruktion des Nachkriegsdeutschlands hat mich derart begeistert, dass ich diesen perfekten Start nutzte, mich endlich in Fassbinders Werk zu vertiefen. Ich habe mir aus Großbritannien für relativ kleines Geld zwei DVD-Boxen (Rainer Werner Fassbinder Vol. 1: 1969 – 1972 + Vol. 2: 1973 - 1982) mit insgesamt 17 Filmen besorgt, von denen ich mittlerweile zehn gesehen habe. Doch in der heutigen FILMSTARTS-Perle soll es um einen ganz anderen Fassbinder-Film gehen, den ich erst vor einigen Tagen nachgekauft habe: seinen visionären Zukunfts-Thriller „Welt am Draht“, der bei der Berlinale 2010 übrigens in restaurierter Form wiederaufgeführt wurde, was ich bei der Gelegenheit allerdings leider verpasst hatte.
1999 ließen die Wachowski-Geschwister die Filmwelt mit ihrem visuell überbordenden Virtuelle-Welt-Thriller „Matrix“ aufhorchen und lösten einen Hype aus, der zwei weniger euphorisch rezipierte Fortsetzungen nach sich zog. Mit nicht weniger Getöse wurde Christopher Nolans ebenso grandioser Sci-Fi-Thriller „Inception“ anno 2010 gefeiert, aber auch geringer budgetierte Werke wie David Cronenbergs „eXistenZ“ oder Alex Proyas‘ „Dark City“ erlangten bei Liebhabern des Genres Kultstatus. Die filmische Erforschung virtueller Realitäten war dabei jedoch keineswegs so neuartig wie bisweilen behauptet wird. Einen der Grundsteine für das Subgenre legte bereits 1973 ausgerechnet das deutsche Regie-Enfant-Terrible Fassbinder, der mit seinem – zu Unrecht fast in Vergessenheit geratenen – fast dreieinhalbstündigen TV-Zweiteiler „Welt am Draht“ die viele heute so aktuell wirkende Themen und Motive vorwegnahm.
Gefangen zwischen den Realitäten: Klaus Löwitsch als Fred Stiller.
Die 1970er Jahre: Nach dem überraschenden Tod von Professor Henry Vollmer (Adrian Hoven) fällt dessen Assistent am Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung, Dr. Fred Stiller (Klaus Löwitsch), die Karriereleiter hinauf und nimmt den Chef-Posten ein. Vollmer schien dem Wahnsinn verfallen, redete vor seinem Ableben wirres Zeug von einer unfassbaren Entdeckung. Stiller will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, zumal der Sicherheitschef des Instituts, Günther Lause (Ivan Desny), mysteriöse Andeutungen zu Vollmers Tod macht. Doch ehe Lause auspacken kann, verschwindet er spurlos. Schlimmer noch: Außer Stiller scheint ihn niemand zu kennen oder sich auch nur an ihn zu erinnern. Vollmer leitete ein Projekt, in dem ein Supercomputer namens Simulacron-1 das Leben in einer Kleinstadt simuliert. Stiller klinkt sich ein in diese virtuelle, so real wirkende Welt und sucht dort nach Anhaltspunkten für Vollmers rätselhaften Tod. Doch je tiefer er gräbt, desto größer wird der Widerstand, der ihm entgegengebracht wird…
„Welt am Draht“ ist eine Besonderheit im Schaffen von Regie-Kraftwerk Rainer Werner Fassbinder, der zwischen 1969 und 1982 bis zu seinem Tod im Alter von nur 37 Jahren mehr als 30 Spielfilme, zahlreiche Theater-Inszenierungen, die 13-teilige epische Fernsehserie „Berlin Alexanderplatz“ und einige Fernsehfilme gestemmt hat. „Welt am Draht“ war bis zur Neuaufführung bei der Berlinale fast aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht und nahm in Fassbinders (Nach-)Wirken bis dahin keine sonderlich exponierte Stellung ein. Nach der Erstaufführung im deutschen Fernsehen am 14. und 16. Oktober 1973 wurde der epochale TV-Zweiteiler nur noch selten öffentlich gezeigt. Während sich Meisterwerke wie „Angst essen Seele auf“, „Lili Marleen“, „Martha“, „Die Ehe der Maria Braun“ oder „Lola“ aus Fassbinders Nachlass ins kulturhistorische Gedächtnis gebrannt haben, fristete „Welt am Draht“ ein Nischendasein.
Das jedoch völlig zu Unrecht, denn sein visionärer Blick auf das Kommende ist so viel tiefsinniger als der der US-amerikanischen Genre-Konkurrenz. Seine Verfilmung des Science-Fiction-Romans „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye aus dem Jahr 1964 besitzt, obwohl für das Fernsehen und auf 16 Millimeter gedreht, eindeutig Kino-Format, wofür allein schon Michael Ballhaus‘ brillante Bilder sorgen. Kühl fängt der legendärste aller deutschen Kameramänner („GoodFellas“, „Departed: Unter Feinden“) das Geschehen ein, sorgt mit seinen Untersicht-Perspektiven auf endlose Flure und Gänge für ein Gefühl unterschwelliger Bedrohung und mit seinen berühmten 360-Grad-Schwenks dafür, dass kein Winkel unbetrachtet bleibt. Immer wieder filmt er zudem Spiegel und Spiegelungen und verleiht dem Thema der virtuellen Welten und unterschiedlichen Realitätsebenen damit ebenso sinnfällig wie brillant visuell Ausdruck.
Der Geniestreich: Fassbinder siedelt seine bittere Dystopie nur wenige Jahre nach der damaligen Gegenwart der früheren 1970er Jahre an und verzichtet auf futuristische Ausstattungsgimmicks. Und selbst seine virtuelle Realität ist nur durch Nuancen im Schauspiel und im Setdesign von der Wirklichkeit erster Ebene zu unterscheiden. Die wahren Abgründe tun sich in den Gedanken des Betrachters auf: In einer emotional schockierenden Szene fragt die Hauptfigur Stiller: „Wo ist oben?“ Welche Realität ist die ursprüngliche und welche die simulierte? Wer sagt uns eigentlich, dass unsere Welt die einzig reale ist? Ist der Mensch überhaupt in der Lage, seinen Platz im Gesamtgefüge des Universums „realistisch“ einzuschätzen? Virtuos dringt Fassbinder immer tiefer ins Labyrinth der Realitäten ein, nimmt zwischendurch Anleihen in der Philosophie bei Platon und Aristoteles oder zitiert ein Paradoxon um den griechisch-mythologischen Heros Achilles und dessen Wettrennen gegen die Schildkröte.
Fassbinder legt bei seiner bewusst sterilen und dabei doch ungeheuer atmosphärischen, sogartigen Inszenierung das Augenmerk auf das fein verwobene Handlungskonstrukt. Action spielt dabei trotz einiger Ansätze im zweiten Teil, wenn Klaus Löwitschs Fred Stiller auf der Flucht vor der ganzen Welt in die Enge getrieben wird, kaum eine Rolle. Im Zentrum steht die verwickelte Thrillergeschichte mit ihrer großen Intrige und Verschwörung, in deren Fallstricken sich Stiller verheddert hat. Geschickt verteilt Fassbinder kleine Hinweise, die gleichsam als Anker in den unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen dienen: „Es könnte unendlich abwärts.“ Ein eiskalter Satz, der bis ins Mark trifft und der von Nolan in „Inception“ eindrucksvoll visualisiert wurde. Fassbinder tritt diese Reise dagegen umso wirkungsvoller im Kopf an, denn auf Spezialeffekte verzichtet der Regisseur in seinem Opus fast völlig – mit Ausnahme einer Explosion im Finale.
Ernst Küsters, El Hedi Ben Salem und Karl-Heinz Vosgerau.
Fassbinder setzt aber natürlich nicht nur inhaltlich ganz eigene Akzente. Auch bei der Besetzung findet er eine nahezu perfekte Mischung: Zusätzlich zu den Mitgliedern seiner berühmten „Schauspielfamilie“, mit denen er regelmäßig arbeitete (Klaus Löwitsch, Wolfgang Schenck, Günter Lamprecht, Ulli Lommel, Kurt Raab sowie Margit Carstensen, Barbara Valentin), engagierte er für die Nebenrollen Altstars der 50er und 60er Jahre – Leute wie Adrian Hoven, Ivan Desny, Karl-Heinz Vosgerau, Christine Kaufmann, Eddie Constantine oder Walter Sedlmayr, die immer wieder kleine Glanzpunkte setzen. Alles überragend ist aber Löwitsch als tougher Held der Geschichte. Von ständigen Kopfschmerzen geplagt, regelmäßig zu viel trinkend und rauchend, droht er dem Wahnsinn zu verfallen, während er verzweifelt versucht, das Komplott aufzudecken. Was hat jemand zu verlieren, wenn er sich mit dem Tod abgefunden hat? Und deshalb spielt Löwitsch von Minute zu Minute entfesselter auf, während alle um ihn herum starr und künstlich agieren. Der erzielte Effekt jagt einem einen Schauer über den Rücken. Wo fängt Paranoia an? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage dringen Fassbinder und seine Darsteller tief in das Innere der Figuren vor.
„Welt am Draht“, der mich immerhin stolze 20 Euro für die DVD gekostet hat, war für mich eine Offenbarung und jeden Cent wert – ähnlich wie „Lola“, nur noch beeindruckender. Die Vielseitigkeit Fassbinders, der sich auf unvergleichliche Weise wieder einmal einen vermeintlich untypischen Stoff aneignet, ist atemberaubend. Die Genrethematik bleibt bei ihm im Kern erhalten, zugleich stülpt er ihr aber eine anarchistisch-sperrige Arthouse-Inszenierung über, um etwas stilistisch Einzigartiges zu schaffen. So wie er es vorher mit amerikanischen Gangsterfilmen („Liebe ist kalter als der Tod“), Dramen von Douglas Sirk („Der Handler der vier Jahreszeiten“) oder später mit dem großen deutschen Nachkriegskino („Lili Marleen“, „Lola“) gemacht hat, nimmt er oft gesehene Versatzstücke und gewinnt ihnen ganz neue und persönliche Facetten ab.
Die Welt innerhalb der Welt.
Um den unvermeidbaren Vergleich zwischen den größten Regisseuren des Neuen Deutschen Films werde ich mich dieses Mal mit guten Argumenten drücken. Ja, Werner Herzog ist weiterhin mein absoluter Lieblingsregisseur, und ich mag auch Wim Wenders, aber Fassbinder ist definitiv in die Spitze meiner persönlichen Top-Filmemacher wie Michael Mann, Quentin Tarantino, Christopher Nolan oder David Fincher gestoßen. Aber nach rund zehn von mehr als 30 Filmen lässt sich schließlich kein Gesamtwerk beurteilen, sondern nur Lust auf mehr ableiten. Außerdem ist da ja auch noch Fassbinders legendäre 13-teilige TV-Serie „Berlin Alexanderplatz“, die es in der Zukunft zu entdecken gilt. Ich habe mich jedenfalls schon zur Ausleihe bei meinem Kollegen Andreas Staben angemeldet, der das Werk sein Eigen nennt, es aber auch noch nicht gesehen hat...
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