Existenzialismus in den Plains
Der Western bietet genügend Raum für die Verarbeitung von unterschiedlichster künstlerischer Genres. Action, Comedy, Horror, historisches Epos - im Prinzip gibt es wohl kein Genre, dass man hier nicht findet. Und totzukriegen ist der Western sowieso nicht.
Wohl kein Thema eignet sich für einen Western besser, als der des Existenzialismus, in dem insbesondere die Themen Tod, Angst, Freiheit, Handeln & Verantwortung und Liebe als elementaren menschliche und Erfahrungen verarbeitet werden.
Genau darum und nicht weniger geht es in Taylor Sheridan's großartig geschriebener und umgesetzter Serie "1883". Wer seine Oeuvre kennt, weiß, dass er sich dem Western verschrieben hat und unterschiedlichste Themen und Motive immer wieder neu interpretiert, diskutiert und kritisiert. Sei es die Frage nach ethischen Werte, was Moral ausmacht, die Verbrechen und der Landraub der weißen Siedler an den Indigenen und deren leidvolle Situation selbst und natürlich die Schönheit und Brutalität der Natur selbst.
Sheridan ist ein Tausendsasser, der seinen Ideen und Vorstellungen schon in etlichen Filmen und Serien eingebracht hat. Nach "Hell or High Water" ist es natürlich "Yellowstone", der die Geschichte über das Werden und Sein der USA neu erzählt. Auch wenn "Yellowstone" überaus unterhaltsam und auch oft kritisch ist sensiblen Themen umgeht (Sheridan bricht in nahezu jedem seiner Filme und Serien eine Lanze für die Idigenen), so ist es eher eine sehr gut geschriebene Soap Opera, mit Action und Intrigen, aber weniger eine philosophische Diskussion über die Essenz des Menschseins.
Das mag geschwollen klingen, aber genau das ist "1883". Natürlich gibt es auch viele andere Western, die sich mit Themen wie Rassismus, Werte und Natur vs Kultur auseinander setzen. Aber "1883" schafft IMO etwas neues:
Es gibt einen unfassbar authentischen Einblick in die damalige Zeit, schafft ein Verständnis für das Denken und Fühlen der Menschen und fragt zu guter Letzt "Was ist der Mensch? Was treibt ihn an, was zeichnet ihn aus?"
Neben den unfassbar guten Drehbuch sind es natürlich die Schauspieler, die sich offensichtlich bewusst waren, dass sie an etwas Außergewöhnlichen arbeiten.
Sam Elliot spielt zwar wieder das typische Rauhbein, versetzt seiner Figur aber eine ungeheuerliche Sensibilität. Einige der besten Szenen gehören auf jedem Fall ihm. LaMonica Garrett als treuer und aufopferungsvoller Freund Thomas hat mir ebenfalls außerordentlich gut gefallen.
Im Zentrum steht natürlich die Familie Dutton. Jim McGraw gibt absolut glaubwürdig einen internen und aufopferungsvollen Vater ab, für den die Familie alles ist. Seine Frau (Faith Hill) ist kein "TradWife", sondern steht gleichberechtigt neben ihren männlichen Weggefährten. Zentrum des Geschehens ist natürlich Elsa (Isabel May), die ihre Rolle mit einer großen Portion jugendlichen Sturm-und-Drangs und einer unglaublichen Verve spielt. Sie bildet den Anfang und vor allem das Ende der Geschichte. Und geschickt verpackt Sheridan hier auch noch eine Coming-of-Age-Story, aber ganz ohne die restlichen Themen aus dem Auge zu verlieren.
Die Serie schafft es, nahezu jedes typische Westernmotiv (Saloons, Trails, Indianer, Cowboys, die Weite des Landes usw) unaufdringlich und authentisch zu bedienen. Wenn man so möchte, ist 1883 vielleicht sogar "der" Western, weil hier alles gesagt wird, was über den Western gesagt dass werden soll.
Ein großartiges Werk mit einem emotionalen Ende, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen haben. Bravo!