Ein Setting, das mit leichten Variationen auch in viele andere Großstädte gepasst hätte. Der Gegensatz zwischen wohlhabender politischer Elite und von Migranten dominierten Wohnblocks ist vielerorts ähnlich krass wie hier, Marseille ist allerdings als Stadt optisch ein echter Hingucker. Mittelmeer und mildes Klima können nicht über die Abgründe des lokalen Wahlkampfs hinwegtäuschen, in dem auch mal Mafia und Kleinkriminelle für die eigenen Zwecke bemüht werden. In diesem Fall sind es persönliche Ambitionen, die die beiden Bürgermeisterkandidaten zu Schurken ersten Grades werden lassen, ersetzt man diese jedoch durch gegensätzliche politische Ansichten, wäre ähnliches denkbar.
Gérard Depardieu und Filmfamilie stehen gerade in den ersten Folgen als Sympathieträger da, mit der zunehmenden Verschärfung des Konflikts bröckelt die Idylle in der noblen Stadtvilla aber schon bald. Nicht jede Reaktion bleibt nachvollziehbar, doch im Herzen scheint "Marseille" tatsächlich ein Familiendrama zu sein, denn trotz aller Streitereien, Drohungen und fiesen Maßnahmen deutet das Schlussbild darauf hin, dass Blut eben doch dicker als Wasser ist. Aber wir wollen nicht zu viel spoilern. Taro zeigt ähnlich wie sein Herausforderer schon bald, was in ihm steckt, was Depardieu in seiner besten Rolle seit einigen Jahren glaubwürdig vermittelt. Taro ist ebenso liebender Vater und Ehemann wie selbstbewusster Machtmensch, der auch vor riskanten Manövern im Wahlkampf nicht haltmacht.
Zusammen mit Charakterkopf Magimel stehen sich zwei Giganten gegenüber, deren Kräftemessen nicht gut ausgehen kann. Streng genommen ist der Konflikt zwischen Ziehvater und Ziehsohn nichts Neues, Magimel gelingt der Wandel vom Welpen zum Wolf aber ohne Probleme. In den Nebenrollen tummeln sich eher wenig bekannte Gesichter, die ihr Handwerk aber durchaus verstehen und frischen Wind in die Serie bringen. Während manche Entwicklung vorhersehbar scheint, warten besonders in der zweiten Hälfte einige Wendepunkte, die sich gewaschen haben und das Ausmaß des Machtkampfes verdeutlichen. Der Einsatz von Gewalt und nackter Haut ähnelt bei Netflix mittlerweile den Hauptverkaufsargumenten von HBO, dient aber vermutlich eher der Abgrenzung gegenüber Hauptkonkurrent Amazon Prime.
In jedem Fall ist die erste französischsprachige Produktion von und für den Streamingdienst eine reizvolle Variation der üblichen Rangeleien um politische Ämter und führt vor Augen, wie schnell zugunsten des Machterhalts vollmundig Programme und Beschlüsse verkündet und zuvor fallengelassene Kollegen doch wieder zurate gezogen werden. Das ist nicht ganz unbrisant, denn irgendwo ist immer Wahlkampf. Auch wenn die dramatischen Schwarzblenden und Dollyzooms aus der Vogelperspektive zu dissonanten Klängen zuweilen etwas überstrapaziert werden, bleibt diese erste Staffel bis zum Ende spannend. Die letzte Folge ist vermutlich aufgrund der im kommenden Jahr folgenden Fortsetzung leider nicht völlig befriedigend, kann im Notfall aber als Appetithappen für Geduldige funktionieren.