Als Jugendlicher träumte der kanadisch-armenische Filmemacher Atom Egoyan davon, wie seine Vorbilder, der Ire Samuel Beckett und der Engländer Harold Pinter, ein weltberühmter Dramatiker zu werden. Doch dann kam ihm die Filmkunst des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman dazwischen. Beeindruckt von dessen abstraktem, komplex verschachteltem Identitätsdrama „Persona“ (1966), wechselte der damals 14jährige kurzerhand ins Regiefach und hat seitdem eine mehrfach preisgekrönte Karriere als intellektueller Autorenfilmer und vielgelobter Kritikerliebling hingelegt. Die Inszenierungen des 1,70 Meter großen Brillenträgers für die Bühne, fürs Kino, fürs Fernsehen und für Kunstausstellungen machten ihn zu einem der bekanntesten Regisseure Kanadas und international gefragten Kunstdozenten. Seine oft nicht linear erzählten, symbolisch potenten Dramen behandeln in der Regel die Identitäts- und Sexualitätskrisen mehrerer zusammenhängender meist gescheiterter Existenzen.
Vom Politikstudenten zum Festivalliebling
Atom Yeghoyan ist der älteste Sohn eines armenischen Künstlerpaares, das sich neben der Malerei durch ein Möbelgeschäft finanzierte. Zu seinem ausgefallenen Vornamen kam Egoyan durch seine Eltern, die sich vom Bau des ersten ägyptischen Atomreaktors inspirieren ließen. 1963 zog die Familie von Atoms ägyptischem Geburtsland nach Kanada, wo er dreisprachig mit seiner Schwester Eve in British Columbia aufwuchs. Im Alter von 18 zog er nach Toronto und begann ein Studium der klassischen Gitarre und in Politikwissenschaften. Nach seinem Abschluss an der University of Toronto, wo er um 1980 bereits begonnen hatte, Kurzfilme zu drehen, schrieb, produzierte und inszenierte Egoyan mit dem Familiendrama „Die nächsten Angehörigen“ seinen ersten Spielfilm. Beim Dreh lernte er 1984 seine spätere Frau, die Schauspielerin Arsinée Khanjian kennen. Sein zweiter Film „Familienbilder“ (1987) brachte Egoyan den Preis der Jury beim Filmfestival von Montreal ein, als der eigentliche Gewinner Wim Wenders (für „Der Himmel über Berlin“) darauf bestand, dass der jüngere Kollege prämiert werden müsse. Zwei Jahre später erschien Egoyans gleichermaßen anerkanntes Erotik-Drama „Traumrollen“.
Vom Geheimtipp zum internationalen Durchbruch
Atom Egoyan fuhr fort, Fernsehepisoden zu inszenieren, unter anderem für „Alfred Hitchcock Presents“, „The Twilight Zone“ und „Erben des Fluchs“. Größere internationale Aufmerksamkeit erlangte er durch das sperrige, mysteriöse Klassendrama „Der Schätzer“ mit Elias Koteas in einer Hauptrolle. Wie bei vielen Egoyan-Filmen zauberte auch hier Kameramann Paul Sarossy die beklemmenden Bilder, während Komponist Mychael Danna für die atmosphärische Musik sorgte. In „Kalender“, einem in seinem ethnischen Heimatland Armenien spielendem Liebes-Drama, gaben Egoyan und seine Ehefrau Arsinée Khanjian die nach ihnen benannten Hauptrollen. Alle diese Kritiker-Erfolge zeichneten sich durch komplexe, nahezu undurchdringlich verschachtelte Erzählstrategien, rätselhafte, trotz reichlich Off-Kommentar nie ganz zu erschließende Protagonisten und ein offenes, unterschiedlich auslegbares Ende aus. Mit „Exotica“, einem erotisch-kühlen Ensemble-Drama um die traumatisierten Kunden und Angestellten eines Stripclubs, die alle eine gemeinsame Vergangenheit teilen, gelang Egoyan der internationale Durchbruch. Vielleicht, weil der Film versöhnlichere, wärmere Töne anschlägt als seine vorherigen Filme.
Karrierehöhepunkt und leichter Abfall
Mit der Russell-Banks-Verfilmung „Das süße Jenseits“ gelingt Atom Egoyan 1997 sein bislang größter Triumph. Das Ensembledrama um die trauernden Mitglieder einer kleinen Gemeinde, die von einem Schulbusunglück traumatisiert sind, bei dem viele ihrer Kinder ums Leben kamen, zeigte Egoyan-Stammspieler wie Bruce Greenwood und Maury Chaykin, aber auch Talente wie Sarah Polley und Ian Holm in schauspielerischer Hochform. Egoyans Lohn waren zwei Oscar-Nominierungen für die beste Regie und das beste Originaldrehbuch und ein Platz für den vielgelobten Film im Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung. Sein Nachfolgewerk, der unorthodoxe Serienkiller-Thriller „Felicia, mein Engel“, nach dem Roman von William Trevor und mit einem grandiosen Bob Hoskins in der Hauptrolle, wurde eher verhalten aufgenommen, gehört aber zu seinen mutigeren und besten Erzählexperimenten. Mehr Beachtung war Egoyan für „Ararat“ (2002) beschienen, in dem Egoyan den Völkermord an den Armeniern in Form eines historischen und zeitgenössischen Ensembledramas aufarbeitet. Dafür erhielt er den kanadischen Oscar, den Genie, für den besten Film des Jahres.
Sex and Crime
Im Anschluss an das persönliche Drama „Ararat“ machte Atom Egoyan eine Kehrtwende und widmete sich schlüpfrigeren Themen und geradlinigeren Genre-Filmen, was ihm die Kritiker zum Vorwurf machten. Der stilvolle, opulent fotografierte Whodunit „Wahre Lügen“ nach dem Roman von Rupert Holmes und mit Kevin Bacon und Colin Firth als populäre Musikstars der 50er, die sich ihre Affären teilen, bis es zur Tragödie führt, fiel bei Kritik und Publikum durch. Für Aufsehen sorgten wenn überhaupt nur die expliziten Sexszenen zwischen den Darstellern und Darstellerinnen, darunter auch Alison Lohman und Rachel Blanchard. Erfolgreicher, zumindest kommerziell, war hingegen der Erotikthriller „Chloe“ mit Julianne Moore als eifersüchtige Ehefrau, die ein Call-Girl (Amanda Seyfried) bezahlt, um ihren Mann (Liam Neeson) zu verführen und dann mit ihr selbst im Bett landet. Das Remake des französischen Dramas „Nathalie“ (2003) spielte mehr ein, als jeder andere von Egoyan gedrehter Film. Als Produzent zeichnete Egoyan zuvor für Sarah Polleys vielbeachtetes Regiedebüt, das berührende Alzheimer-Drama „An ihrer Seite“ mit Julie Christie und Gordon Pinsent in den Hauptrollen verantwortlich.
Atom Egoyan hat einen Sohn mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Arsinée Khanjian, die bis auf „Chloe“ in allen seinen Filmen mitgewirkt hat, und lebt mit seiner Familie in Toronto.