+++ Meinung +++
Godzilla ist dank seines Kinoauftritts „Godzilla Vs. Kong“ wieder in aller Munde. Neben dem Film, in dem sich die Atomechse mit dem ebenfalls ikonischen Gigagorilla kloppt, gibt es im Streaming einen riesigen Wust an Godzilla-Filmen, auf die man zurückgreifen kann.
Wenn man sich aber nur für einen einzigen Film mit dem Kultmonster Zeit nehmen will, so rate ich nachdrücklich zu „Shin Godzilla“, der nur noch wenige Tage (nämlich bis 30. August 2022) im Angebot von Amazon Prime Video enthalten ist:
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Der in Japan mit Auszeichnungen geradezu überschüttete Monsterfilm bietet nämlich starke Spezialeffekte sowie eine Tonalität und Story, die wir heute wohl noch mehr schätzen dürften als in seinem Erscheinungsjahr 2016.
Katastrophendrama trifft Monsterfilm: Das ist "Shin Godzilla"
Die Küstenwache Tokios bemerkt eine rasante Abfolge unerklärliche Zwischenfälle. Deputy Chief Cabinet Secretary Rando Yaguchi (Hiroki Hasegawa) vermutet, dass ein großes, unbekanntes Lebewesen dahintersteckt. Seine Warnungen werden allerdings so lange ignoriert, bis es unübersehbar ist, dass er richtig lag: Eine gigantische Kreatur erhebt sich aus dem Wasser und walzt alles nieder, was ihr im Weg steht. Die Regierung Japans handelt genauso träge wie die Verwaltung Tokios, in den ständig wechselnden Konferenzräumen drückt man sich vor endgültigen Entscheidungen.
Yaguchi stößt indes auf die Forschungsarbeit eines in Ungnade gefallenen Professors, laut welcher die Godzilla getaufte Kreatur durch radioaktive Strahlung entstanden ist. Das japanische Militär ist hilflos, Japans Politiker bekommen Bauchschmerzen angesichts der radikalen Vorschläge der USA. Kann Yaguchi mit Hilfe der US-Sondergesandten Kayoko Ann Patterson (Satomi Ishihara) einen rettenden Plan schmieden?
Godzillas Comeback als Traumabewältigung
Denkt man an Godzilla, denkt man unweigerlich an eine Riesenechse, die sich mit anderen Riesenbedrohungen prügelt. Filme, die sich allein um Godzilla drehen, stellen eine Rarität dar, obwohl dort seine Ursprünge liegen. „Godzilla“ von 1954 ging nicht aufgrund von Spektakel, sondern wegen der intensiven Anspannung in die Filmgeschichte ein, die sich durch den Klassiker zieht. Der Sci-Fi-Horror von Ishirō Honda ist eine kaum kaschierte, eindringliche Auseinandersetzung mit dem nuklearen Trauma, das Japan neun Jahre zuvor durchlitten hat.
Dass sich das „Godzilla“-Franchise von diesen beklemmenden Wurzeln gelöst hat, ist keineswegs Anlass für Kulturpessimismus. Die Echse mit dem Atomatem stapfte seither durch geradlinige Spannungsfilme, wuchtiges Spektakel (wie aktuell in „Godzilla Vs. Kong“), faszinierenden Schund und herzlich-ehrliche Albernheiten. Dieses Durcheinander ist Teil der Faszination! Dennoch ist es geradezu erfrischend, wieder die ernstere Seite dieser Schreckenskreatur zu erleben.
„Shin Godzilla“ knüpft bei den Anfängen des „Godzilla“-Franchises an, indem die Regisseure Shinji Higuchi und Hideaki Anno (letzterer schrieb zudem das Drehbuch) die Titelfigur wieder als übergroße und erschütternde Metapher nutzen. Dieses effektlastige Katastrophendrama verarbeitet ohne Scheu das Tōhoku-Erdbeben und den anschließenden Tsunami von 2011 sowie das von diesen Ereignissen bedingte nukleare Desaster von Fukushima.
Vor allem im ersten Akt ahmen Higuchi und Anno auf nahezu unheimliche Art Bilder der Verwüstung nach, die 2011 um die Welt gingen. Und die ratlos abgehaltenen Pressekonferenzen voller Fehlinformation und heuchlerischen Beruhigungsfloskeln erinnern nicht nur an die nunmehr zehn Jahre alte Reihe an japanischen Desastern. Aus heutiger Sicht hat „Shin Godzilla“ gewissermaßen die trägen, mal übervorsichtigen, mal völlig unverantwortlichen politischen Reaktionen zahlreicher Länder auf die Corona-Pandemie vorhergesagt.
Ein Godzilla nach Nolan-Logik
„Shin Godzilla“ ist nicht nur eine Rückbesinnung auf die Anfänge, sondern ebenso Modernisierung mittels Realismus. Selbstredend bleibt es ein Film über ein radioaktives Ungetüm, das Tokio verwüstet – den Begriff „realistisch“ muss man also mit Vorsicht genießen. Gemeint ist die Art Realismus, die durch Christopher Nolan populär wurde: Es geht um unwahrscheinliche Dinge, die durch eine gedrosselte Erzähltemperatur und eine geerdete Ästhetik plötzlich plausibel wirken.
Das fängt bei Godzilla selbst an: „Shin Godzilla“ erdet das Konzept einer haushohen Echse, die eines Tages aus den Untiefen des Wassers kommt, indem sie anfangs als Wasserwesen skizziert wird. Erst in Folge mehrerer Metamorphosen wird aus dem Ungetüm, das zitternd, blutend und schnaufend aus dem Wasser an Land gerät, die zweibeinige, saurierähnliche Riesenechse, die wir kennen. Zumindest annähernd. Denn es wird stark impliziert, dass dieser Godzilla keine intelligente Urgewalt ist. Das Riesenmonster wirkt geistesabwesend, apathisch und ist womöglich blind. Sein Gebrüll klingt leidvoll, Godzilla handelt ziellos, und sein Äußeres ist mit Schorf und Tumoren übersät.
„Shin Godzilla“ ist keine Popcornkino-Fantasie, sondern die konsequent-grausige, gedankliche Fortführung des Albtraums eines atomar mutierten Ungeheuers. Die Bildsprache zieht mit diesem „nolanesken“ Realismus mit: Kameramann Kosuke Yamada betont durch semi-dokumentarisch wirkende Aufnahmen die gigantischen Dimensionen Godzillas. Mal durch kurze Wackelkamerabilder, die vom Boden zu ihm aufblicken, mal durch ruhige Totalen, in denen sich Godzilla bedrohlich über Tokio erhebt.
Ein Film, der droht, zunehmend aktueller zu werden
Mit Godzillas Metamorphosen wandelt sich auch der Film: So nah „Shin Godzilla“ eingangs an den Kastrophenbildern von 2011 ist, wird der Film sukzessive zu einer größeren, beklemmenden Parabel. „Shin Godzilla“ verharrt streckenweise beim erschreckend überforderten Krisenapparat, der sich als genauso gefährlich und planlos offenbart wie das Monster: Experten, die jungen Frauen wiederholt keinen Glauben schenken, ganz gleich, wie sehr sie Durchblick bewiesen haben. Entscheidungsträger, die sich vor allem Sorgen um ihre Umfragewerte machen. Und die USA, die alles mit Bombenteppichen lösen wollen.
Derweil symbolisiert Godzilla mit zunehmender Bedrohlichkeit das erdrückende Schuldgefühl, in der Vergangenheit Warnungen ignoriert zu haben, und in der Gegenwart nicht effizient genug zu handeln. Schlussendlich wird er zum schuppigen Damoklesschwert: Es steht stets außer Frage, dass die Gefahr zurückkehren und unbändiger wird.
In der Welt von „Shin Godzilla“ ist damit ein den menschlichen Verstand übersteigendes Monstrum gemeint. Jetzt erinnert es uns an das Versagen in der Pandemie. Doch ein kurzer Blick auf die Nachrichten genügt, um sich bewusst zu machen: „Shin Godzilla“ wird uns schlimmstenfalls in einigen Jahren frappierend an verspätetes Handeln in Sachen Ökokrise erinnern...
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Hinweis: Dies ist eine Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.