Dass es sich bei unserem heutigen Science-Fiction-Tipp im Abo von Amazon Prime Video um einen ganz besonderen Film handelt, deutet schon die allererste Einstellung an: Die Kamera fährt durch ein altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer, auf einen (retro-)futuristischen Fernseher zu. Darauf startet gerade eine Folge der Mystery-Serie „Paradoxes Theater“ mit dem Titel „Die Weite der Nacht“. Die Kamera bewegt sich weiter, in den Bildschirm hinein. Wir sind mitten in der Episode drin.
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Mit diesem spielerischen Intro, das deutlich auf die Kultserie „Twilight Zone“ (ab 1959) anspielt, beginnt der Debütfilm von Andrew Patterson. „Die Weite der Nacht“ spielt 1958 in New Mexico. Mehr muss man kaum sagen, um Stimmung und Erwartungshaltung zu beschwören. Ein Jahr zuvor, im Oktober 1957, schüttelte der Sputnik-Schock die USA durch: Die Sowjetunion hatte den ersten künstlichen Satelliten in die Erdumlaufbahn geschickt und kam damit dem Klassenfeind im Westen zuvor. Und in New Mexico liegt das Städtchen Roswell, wo 1947 angeblich ein UFO abstürzte.
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Die Helden des Films sind die High-School-Teens Everett Sloan (Jake Horowitz) und Fay Crocker (Sierra McCormick), denen wir einen Abend lang nahezu in Echtzeit folgen. Er hat die Spätschicht als DJ beim lokalen Radio, sie jobbt bei der örtlichen Telefonzentrale. Beide interessieren sich für Technik und neue Medien. Heute würde man sie Nerds nennen. Und beide träumen davon, aus der Enge ihrer Heimat auszubrechen.
Fay hört während der Arbeit ein seltsames Störungssignal. Dann ruft eine Frau an, die panisch von mysteriösen Lichtern über ihrem Weideland erzählt. Mit der Hilfe von Everett, der über das Radio die Hörer*innen mit einspannt, versucht Fay herauszufinden, woher das Geräusch kommt. Dabei stoßen sie auf eine Ufo-Verschwörung des Militärs. Und immer mehr Leute rufen bei Fay an, die unheimliche Lichter am Himmel sehen…
Jede Sequenz von "Die Weite der Nacht" hat einen anderen Stil
Obwohl sie enorm spannend erzählt wird, klingt die Story von „Die Weite der Nacht“ nicht besonders originell oder clever. Das will sie auch nicht sein. Denn entscheidend ist die filmische Form. Und die ist ein echtes Kabinettstückchen: „Die Weite der Nacht“ ist in längere Kapitel geteilt. Und fast jede ist in einem anderen Stil inszeniert. Im ersten Kapitel folgen wir Everett bei den Vorbereitungen zu einem Basketballspiel. Die Kamera folgt nahezu in Echtzeit dem coolen bis arroganten DJ durch die Halle – mit langen, immersiven Kamerafahrten, wie man sie von Robert Altman oder Martin Scorsese kennt. Aber definitiv nicht aus Serien der 1950er-Jahren.
Nach einem kurzen Zwischenspiel aus mysteriösen, flackernden Lichtern, wechselt der Stil radikal. Das zweite Kapitel fast nur aus Großaufnahmen von Fay, wie sie in der Telefonzentrale Anrufe annimmt und versucht, den Störungssignalen auf die Spur zu kommen. Dann wieder ein Stilbruch: Plötzlich fliegt eine subjektive Kamera durch das ganze Städtchen, knapp über dem Boden wie in einem Horrorfilm. In der nächsten Sequenz setzt die Inszenierung plötzlich auf schnelle Schnitte, schneidet hektisch zwischen Everett beim Radio und Fay bei der Vermittlung hin- und her. Eine andere Szene verfolgen wir fast komplett auf dem flackernden Bildschirm aus dem Intro.
Trotz der visuellen Vielfalt der Stile: In weiten Teilen wirkt „Die Weite der Nacht“ fast wie ein Hörspiel. Gespräche übers Telefon nehmen einen großen Teil der Handlung ein. Der Film wird so zur Hommage an die letzte große Zeit des Radios, bevor es vom Fernsehen verdrängt wurden. „Die Weite der Nacht“ feiert die Kunst des Hörens, die heute Zeiten von Podcasts ein Revival erlebt.
Der "Stranger Things"-Retro-Boom wird clever reflektiert
„Die Weite der Nacht“ treibt als Hommage an die 1950er-Jahre den gegenwärtigen Retro-Boom nicht nur auf die Spitze, sondern reflektiert ihn auch auf einer Metaebene. Wir sehen nicht einfach eine Episode aus einer fiktiven TV-Serie nach dem deutlichen Vorbild von „Twilight Zone“ (ab 1959). Wir sind mittendrin in der Handlung, bewegen uns dort mit allen Mitteln des modernen Films.
Anders als zum Beispiel der Netflix-Hit „Stranger Things“, der seinen Erfolg zum großen Teil plumpen 80er-Jahre-Popkultur-Referenzen zu verdanken hat, geht „Die Weite der Nacht“ deutlich cleverer vor. Der Sci-Fi-Film bedient keine konkrete Nostalgie nach einer Dekade, die ein Großteil des Zielpublikums selbst miterlebt hat. Der Film atmet stattdessen eher eine diffuse Sehnsucht, eine Nostalgie nach der Nostalgie. Andrew Patterson beschwört die Wehmut nach einer Zeit, in der man noch nicht nostalgisch sein musste, sondern an eine Zukunft glauben konnte.
„Die Weite der Nacht“ spielt in den 1950er-Jahren, dem für viele Goldenen Zeitalter der Science-Fiction. Das Genre war aber nicht nur ein Ausdruck des (Technik-)Optimismus, sondern auch ein Vehikel für die Ängste der Zeit: vor der Atombombe, kommunistischer Unterwanderung, einer überbordenden Bürokratie. Es gab aber auch Filme, in denen die Außerirdischen die Menschen vor sich selbst retten, zum Beispiel „Der Tag, an dem die Erde stillstand“ (1951).
Vorsicht, Spoiler! Ohne das Ende verraten zu wollen: In „Die Weite der Nacht“ sind die Außerirdischen für die Helden weniger eine Bedrohung als eine willkommene Abwechslung im Alltag, eine Andeutung von Weite inmitten der Enge, eine Möglichkeit des Ausbruchs. Darin erinnert der Film an Steven Spielbergs positive Alien-Visionen „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) und „E.T.“ (1982). Beide Werke sind deutlich von Spielbergs Kindheit in den 50s beeinflusst – und haben wiederum die Ästhetik von „Stranger Things“ inspiriert. Damit schließt sich der Kreis zur nostalgiegesättigten Gegenwart der Popkultur.
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