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    Kontrovers: Ausgerechnet auf Disney+ läuft die beste Hitler-Parodie der letzten Jahre – vom "Thor 4"-Macher
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Taika Waititi gewann für „Jojo Rabbit“ einen Drehbuch-Oscar – und das völlig zu Recht. Denn die spritzig und schrill beginnende Faschismussatire ist schlussendlich ein berührender und extrem raffiniert eingefädelter Geniestreich.

    SEARCHLIGHT PICTURES / Disney+

    +++ Meinung +++

    Kann man einen schrägen Film über das NS-Regime drehen, ohne dass es geschmacklos wird? Diese Frage wurde in der Vergangenheit bereits wiederholt bejaht, und auch 2019 lautete die Antwort voller Deutlichkeit: Ja! Zwischen seinen bunten Marvel-Abenteuern „Thor: Tag der Entscheidung“ und „Thor: Love And Thunder“ brachte Taika Waititi seine Hitler-Satire „Jojo Rabbit“ in die Kinos und sorgte damit für euphorische Kritiken.

    Mehr noch: Der Kinospaß, in dem der Neuseeländer eine imaginäre Version des grauenvollen Diktators spielt, wurde für sechs Oscars nominiert – darunter als bester Film. In einer Sparte reichte es für den Sieg: Bestes adaptiertes Drehbuch. Hier könnte die Geschichte eigentlich enden, und wir können allen, die „Jojo Rabbit“ bisher nicht gesehen haben, nur empfehlen, ihn nachzuholen – beispielsweise auf Disney+, wo die satirische Dramödie im Abo erhältlich ist.

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    Jedoch geht die „Jojo Rabbit“-Rezeption weiter: In den vergangenen Jahren hat sich ein kleines, aber vehementes „Hatedom“ entwickelt, das Waititis Oscar-Film vorwirft, den Holocaust zu verharmlosen. Ein Grund mehr, auf die kontrovers gewordene Romanadaption zu blicken und sie angesichts dieser Vorwürfe genauer zu beäugen...

    "Jojo Rabbit": Lächerlich?

    Energiebündel Jojo Betzler (Roman Griffin Davis) ist voller Vorfreude: Endlich fährt er ins Nazi-Ferienlager und bekommt dort beigebracht, wie man ein guter Soldat wird. Außerdem erwarten ihn dort ein Auffrischungskurs darin, wie monströs Juden sind, und die Möglichkeit, neue Freunde zu finden. Dabei hat er schon einen besten Freund: Adolf Hitler (Taika Waititi) höchstpersönlich! Naja, jedenfalls in Jojos Fantasie. Was sich Jojo dagegen niemals hätte ausmalen können: Seine liebevolle Mutter Rosie (Scarlett Johansson) versteckt ein jüdisches Mädchen namens Elsa (Thomasin McKenzie). Jojos imaginärer Freund spornt ihn zu radikalen Lösungen an, doch die selbstbewusste Elsa verängstigt den Hasenfuß. Was nun?

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    „Jojo Rabbit“ beginnt mit einem Buben, der immer und immer wieder in begeisterter Tonlage „Heil, Hitler!“ ruft. Kurz danach sehen wir ein kauzig in Szene gesetztes Ferienlager, das mit Hakenkreuzen übersät ist und in dem Rebel Wilson wissbegierig lauschenden Kindern erzählt, dass Frauen nur als Gebärmaschine von Wert sind. Dann ist da noch ein blaue Kontaktlinsen tragender Taika Waititi, der Hitler mit naiv-säuselnder Stimme spielt. Man hat gar nicht die Zeit, sich während des Auftakts von „Jojo Rabbit“ in Gedanken kritisch mit der Frage „Darf man über Hitler und die Gräueltaten der Nazis lachen?“ auseinanderzusetzen.

    Zu schnell, zu schrill, zu laut, zu fiebrig haut einen Waititi die Weltsicht des von NS-Propaganda hirngewaschenen Jojo um die Ohren. Pietätlos? Leichtsinnig? Womöglich gar brandgefährlich, weil es grauenvolle Täter als alberne Dummköpfe darstellt? Nun, eine sehr lautstarke Minderheit mag dies so sehen und für konstanten Gegenwind sorgen, dem sich dieser Film erwehren muss. Aber ihr entgehen wichtige Aspekte von „Jojo Rabbit“...

    Denn Waititi gibt den Rekrutierungsmechanismen des Faschismus keinen einzigen Fußbreit Platz, nicht einmal, um sie danach zu dekonstruieren. Schließlich gehört die Selbstdarstellung als mächtig, furchteinflößend und einschüchternd zur Propaganda-Trickkiste des Faschismus: Einerseits skizzieren Hassgruppen ihre Feinde als brandgefährlich und unaufhaltsam. Aber im gleichen Atemzug positionieren sie sich selbst als mächtige Antwort auf ihre Feinde. Damit biedern sie sich bei jenen an, die sich schwach fühlen, als Teil einer unbezwingbaren Gruppe sehen wollen und somit gegen den vermeintlich gemeinsamen Feind instrumentalisieren lassen.

    Nein, gefährlich!

    Genau dies sind die Methoden, mit denen sich der schüchterne und ängstliche Jojo von der NS-Propaganda hat einlullen lassen. Das macht Waititi erzählerisch klar, ohne diese „Lockmittel“ aufzugreifen. Stattdessen präsentiert er uns das Ergebnis: Jojo fantasiert davon, wie fantastisch diese fanatische Weltsicht sei, doch wir sehen nur den Irrsinn, die völlig überzogene, weltfremde Außenwirkung. Kein heutiger Jojo würde während „Jojo Rabbit“ auch nur eine Sekunde lang auf den Gedanken kommen, Schulter an Schulter mit diesen oder ähnlich vorgehenden Knallchargen an Wert zu gewinnen, zu abschreckend diese Gesellschaft. Das ist bereits gewieft, dennoch belässt es der Regisseur/Autor nicht darauf:

    Seine lose Adaption des Christine-Leunens-Romans „Caging Skies“ zeigt nicht allein einen verblendeten Jungen. Sie mahnt auch uns, uns nicht blenden zu lassen. Der Film warnt davor, aus vermeintlich sicherem Abstand das Dritte Reich und alles, wofür es stand, als „diese dumme Zeit damals, die zum Glück vorbei ist“ wegzulachen. Geschweige denn wegzuschauen, wenn die neue Rechte wütet. Stattdessen sorgt „Jojo Rabbit“ dafür, dass uns das anfänglich so grelle Lachen wieder hochkommt. Aus der wilden Satire wird nämlich schlagartig eine Tragödie, die unter die Haut geht. Das gelingt Waititi mittels brillanter Regieführung und punktgenau platzierten, emotionalen Tiefschlägen.

    Außerdem sind die Nebendarsteller*innen innerhalb der ins Dramatische kippenden Farce vielseitig – sei es etwa die sukzessive alltäglicher, kummervoller spielende Thomasin McKenzie, die durch und durch fantastische Scarlett Johansson oder der bitterkomische Sam Rockwell. Sie alle machen klar: Ja, man darf über den Unsinn einer hasserfüllten Ideologie lachen. Energisch den Kopf schütteln und ungläubig lachen, wie man bloß voller Überzeugung anderen Menschen Tod und Elend wünschen kann. Aber das sollten nur initiale Reaktionen bleiben. Man darf nie vergessen, wie gefährlich der Faschismus und seine Anhänger letztendlich sind. Das ist keine neue Erkenntnis. Aber „Jojo Rabbit“ vermittelt sie mit beeindruckender, lang nachhallender Eindringlichkeit.

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