1998. Man nehme Nicolas Cage, der sich nach „The Rock“ und „Con Air“ auf dem Hoch seines Popcornkino-Erfolgs befindet, und Regie-Star Brian De Palma, der mit „Mission: Impossible“ kürzlich einen Blockbuster abgeliefert hat. Hinzu kommt „Forrest Gump“-Nebendarsteller Gary Sinise; als Setting nimmt man eine Boxkampfarena – eine attraktive Wahl, erlebt Boxen doch gerade einen erneuten Frühling als quotenstarkes TV-Sportevent. Fertig ist der Hit-Thriller. Sollte man meinen.
Stattdessen war „Spiel auf Zeit“ mit einem Budget von 73 Millionen Dollar und einem globalen Kinoeinspielergebnis von etwas weniger als 104 Millionen Dollar ein Misserfolg. Auch die Kritiken fielen ernüchternd aus. Und im Gegensatz zu diversen anderen Flops von De Palma oder Nicolas Cage lässt bislang die Welle der verspäteten Anerkennung auf sich warten. Ein bedauerlicher Umstand, der geändert gehört. Zum Glück lässt sich dieses unterschätzte Kleinod aktuell unter anderem via Disney+ abrufen und wiederentdecken!
Mörderische Verschwörung beim Boxkampf
In Atlantic City steht ein heiß erwarteter Boxkampf an – sogar der Verteidigungsminister höchstpersönlich gibt sich die Ehre, um den Event-Fight vor Ort mitzuerleben. Daher gilt in der Arena höchste Sicherheitsstufe und der ebenso talentierte wie schrille Polizist Rick Santoro (Nicolas Cage) bekommt die Aufgabe, die Sicherheitsvorkehrungen zu überwachen. Trotzdem kommt es zur Katastrophe: Der Minister wird während des Kampfes erschossen. Panik bricht aus.
Im Chaos sind geordnete Ermittlungen nahezu undenkbar. Also schließt sich Ricks langjähriger Kumpel Kevin Dunne (Gary Sinise), seines Zeichens Navy-Offizier und Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums, der Tätersuche an. Eine mysteriöse Frau (Carla Gugino) sticht dem Duo besonders ins Auge, doch die Zeit drängt zu sehr, um nach den Regularien vorzugehen: Ein Sturm zieht auf und hält direkt auf die Sportarena zu. Können Rick und Kevin die Schuldigen mit sauberen Mitteln finden, bevor der Tatort evakuiert werden muss?
Mittendrin, statt nur dabei
Will man Brian De Palma beschreiben, dann wohl am besten so: Er ist riesiger Hitchcock-Fan – ruht aber mit mindestens einem Bein im verschwitzten, reißerischen B-Kino. Und das zelebriert er unverblümt: Seine Filme strotzen vor aufwändig geplanten, inszenatorischen Spielereien voller Klasse – und sie sind ebenso stolz auf ihre knalligen Charakterisierungen und derben Dialoge.
In „Spiel auf Zeit“ zeigt sich De Palmas Hitchcock-Seite mit einer Vielzahl an langen Plansequenzen, allen voran das atemberaubende Opening. Darin folgen wir fast 13 Minuten lang ohne sichtbaren Schnitt einem gehetzten Rick Santoro, der ein letztes Mal vor Beginn des Boxkampfs die Arena inspiziert. Es ist nicht nur eine handwerklich stattliche Sequenz, mit der De Palma sein Können vorführt. Sie versetzt uns auch direkt in Ricks Schuhe – im Sekundentakt bekommen wir falsche Fährten und Kleinigkeiten, die noch an Bedeutung gewinnen werden, um die Ohren gehauen. Ein hervorragender Einstieg in einen Thriller über eine Mördersuche!
Auch im weiteren Filmverlauf nutzt De Palma mehrmals kontinuierliche Kamerafahrten, um sein Publikum unmittelbar an der Indiziensuche und den Kombinationsversuchen der Figuren teilhaben zu lassen. Das erfolgt teils auch in Rückblenden, die die objektiven Eindrücke einer Figur als komplexe Kamerafahrt zusammenraffen.
Der Fall, den De Palma auf diese galante Weise präsentiert, findet allerdings in einer lärmenden Kampfarena statt, führt Rick und Kevin in ein geschmacklos eingerichtetes Casino und offenbart sich sukzessive als Teil eines himmelschreienden Komplotts. Diese Gegensätzlichkeit spielt der „Scarface“-Regisseur behände aus: Es macht nicht nur diebischen Spaß, einen reißerischen Thriller in edler Aufmachung zu sehen, es verdeutlicht auch die perfide Planung der Schurken – denn wer würde in diesem schäbigen Setting schon mit schwerem politischem Tobak rechnen?
Verbissen und bissig: Cage und Sinise
Abgerundet wird diese Verbindung aus Handswerkskunst und Schund durch Nicolas Cage, der sich einmal mehr mit ansteckender Spielfreude durch die Szenerie beißt. Er spielt Rick Santoro als lauten, schrillen, auffälligen Cop mit verlässlichem Bauchgefühl, guter Kombinationsgabe, wackliger Moral und keinerlei Pokerface. Rick gehört in dieses Umfeld aus Boxsport-Rummel und halbseriösem Glücksspiel – und er könnte wie sein Kumpel Kevin zu Größerem berufen sein, doch dafür reißt er sich nicht ausreichend am Riemen.
Heimkino-Tipp: Spätestens jetzt solltet ihr dieses Meisterwerk vom "Scarface"-Macher unbedingt nachholenSinise lässt sich währenddessen nicht von Cage die Butter vom Brot stehlen: Als sehr von sich überzeugter Navy-Offizier gibt er ebenfalls eine Performance mit Biss ab und macht Kevin zu einem Mann mit straffen geordnetem Auftreten, der jedoch während der Tätersuche weitaus weniger Erbarmen zeigt als Rick. Dieses ungleiche Duo mittels Überwachungskameras dasselbe Verbrechen mehrmals aus verschiedenen Winkeln beobachten und widersprüchliche Indizien kombinieren zu sehen, ist dank der reißerischen Charakterzeichnungen und Dialoge vergnüglich und zugleich dank des vertrackten Falls sowie der minutiösen Indiziensuche spannend.
Die Auflösung des zentralen Mordkomplotts erfolgt zwar recht früh, allerdings verstehen es De Palma und Drehbuchautor David Koepp („Jurassic Park“), daraufhin eine zweite Spannungskurve in Gang zu setzen: Aus „Was geht hier vor, und wer steckt dahinter?“ wird die Frage „Können die Schuldigen dingfest gemacht werden, oder lassen sich die Guten von ihnen verführen?“ – vielleicht war es nicht das, was damals das Kinopublikum erwartet hat. Doch für einen Streaming-Filmabend voller Suspense sorgt das allemal!