Endlich läuft der großartige Horror-Thriller „Last Night In Soho“ in den deutschen Kinos. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die nach London kommt und in ihren Träumen bald in die 60er-Jahre eintaucht. Doch dort wird sie Zeugin unheimlicher Ereignisse – und bald holt sie dieser Horror auch in der Realität der Gegenwart ein.
Der Thriller glänzt mit großartigen Darstellerinnen (Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy sowie Diana Rigg in ihrer letzten Rolle), intelligenten Wendungen in der einfallsreichen Story und einigen schockierenden Momenten. Dazu kommen eine stilvolle Optik und die einnehmende Atmosphäre – alle und alles unterstützt durch einen extrem coolen und geschmackssicheren Soundtrack, wie wir es von Regisseur Edgar Wright bereits kennen.
Dass Wright ein Musik-Nerd im besten Sinne ist, wissen Fans des aus Poole im Süden Englands stammenden Regisseurs nicht erst seit seiner kürzlich in den deutschen Kinos gestarteten Doku „The Sparks Brothers“ über das von ihm verehrte Pop-Duo Sparks. Bevor ihm sein Einstieg ins Mainstream-Filmgeschäft gelang, drehte er Videoclips für UK-Indie-Acts wie The Bluetones, Mint Royale oder Charlotte Hatherley und lernte dabei, seine Bilder perfekt auf den Vibe eines Songs abzustimmen und den Schnitt messerscharf mit dem Beat zu synchronisieren.
Wohl kein anderer Filmemacher versteht es besser, perfekt ausgewählte und im Rahmen der Geschichte platzierte Lieder aller möglichen Stilrichtungen für seine Kunst zu nutzen. Mit ihrer Hilfe bringt er uns die Figuren näher, als ein von einem Komponisten neu geschriebener Score allein es könnte. Er gibt der Handlung mit meist bekannten, aber immer auch ein paar obskureren Stücken Tiefe, heizt die Spannung an, streut leichte oder amüsante Passagen ein, weckt Assoziationen und/oder erzeugt beim Publikum Emotionen. „Last Night In Soho“ ist dafür das neueste und vielleicht sogar beste sowie effektivste Beispiel seiner bisherigen Karriere.
Die Musik zu "Last Night In Soho"
Neben der Top-Ausstattung, den atemberaubenden Kulissen und den wunderbaren Kostümen hilft nämlich insbesondere die Auswahl der Musikstücke Wright dabei, die Zuschauer*innen zusammen mit der von Thomasin McKenzie gespielten Hauptfigur Eloise auf diese Zeitreise in das London der „Swinging Sixties“ zu schicken. Das dankenswerterweise chronologisch zur Abfolge im Film angeordnete Soundtrack-Album ist superb und würde selbst ohne den Film als abwechslungsreiche Zusammenstellung von Hits der Ära hervorragende Dienste tun.
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Hier jagt ein brillant das Geschehen auf der Leinwand anreichernder Ohrwurm den nächsten. Das beatleske „A World Without Love“ von Peter & Gordon aus der Eröffnungsszene illustriert klug die verträumt-romantische Naivität der Protagonistin. Als sie dann in die Stadt kommt und das dortige Nachtleben erforscht, verändert sich auch die Musik entsprechend ihrer Erfahrungen und Empfindungen: vom wild-psychedelischen Stampfer „Wade In The Water“ der Graham Bond Organisation über Cilla Blacks sehnsüchtiges „You're My World“ und das nervöse „Always Something There To Remind Me“ (Sandie Shaw) bis zum von Anya Taylor-Joy in verschiedenen Varianten atemberaubend verletzlich performten „Downtown“ (im Original ein Welterfolg für Petula Clark) …
Die Musik von „Last Night In Soho“ funktioniert für uns als Gefühls-Leitfaden durch die Handlung und die Erlebnisse der sich darin bewegenden Eloise und Sandie (Taylor-Joy). Die subtil den dramatischen Bogen nachzeichnenden Stücke lassen uns beinahe physisch mitfühlen. Dass Edgar Wright ein Meister darin ist, das Publikum mit der Hilfe des exakt richtigen Songs zur richtigen Zeit emotional zu involvieren, hat er schon in seinen bisherigen Filmen zur Schau gestellt. Viele der in diesen Streifen benutzten Kompositionen werden mittlerweile sogar weitläufig mit seinen Leinwandwerken assoziiert.
Daher wollen wir anlässlich des Kinostarts von „Last Night In Soho“ auch ein wenig auf den bisherigen Einsatz von Musik in den Werken des Regisseurs zurückschauen.
Die Musik zur sogenannten "Cornetto Trilogie":
In Wrights großem Durchbruch, der Horror-Comedy „Shaun Of The Dead“, wird Popmusik hauptsächlich zu humoristischen oder Ironie vermittelnden Zwecken verwendet. Etwa, als die Jukebox in der Stammkneipe des von Simon Pegg verkörperten Titelhelden plötzlich beginnt, Chicagos Mega-Schnulze „If You Leave Me Now“ zu plärren, nachdem dieser gerade von seiner Freundin verlassen wurde. Oder sie spielt Queens superfröhliches „Don't Stop Me Now“, während der Pub von Zombies überrannt wird und Shaun und seine Kumpels mit Billardqueues im Rhythmus des Liedes auf sie einschlagen.
Auf die skurril-absurde Situation und die Nonchalance, mit der die Charaktere dieser begegnen, werden wir schon zu Beginn mit einer Eröffnungsmontage vorbereitet. Wright zeigt uns, wie der städtische Alltag mehr und mehr von Untoten bevölkert wird und unterlegt dies aber nicht (wie eigentlich zu erwarten wäre) dramatisch anschwellend, sondern mit I Monsters relaxten Elektro-Klängen von „Blue Wrath“. Mit dem ebenfalls von Queen stammenden „You're My Best Friend“ setzt er auch eine das Spektakel amüsant wie rührend beendende Schlusspointe.
Im Slapstick-Actioner „Hot Fuzz - Zwei abgewichste Profis“ wird dagegen deutlich häufiger die Story direkt mit Musik vorangebracht. Das beginnt damit, dass wir die erneut von Simon Pegg gespielte Hauptfigur Nicholas Angel zu „Goody Two Shoes“ von 80er-Star Adam Ant kennenlernen. Dessen Text beschreibt den auf die Einhaltung von Regeln und Vorschriften versessenen Polizeibeamten augenzwinkernd und doch sehr treffend.
Ebenso passend ist der Einsatz des für die Band ungewöhnlich lieblichen „The Village Green Preservation Society“ von The Kinks. Die Nummer läuft, als Angel erstmals durch seinen neuen Einsatzort joggt und die für ihn überraschend freundlichen und dadurch natürlich sofort schwer verdächtigen Dorfbewohner kennenlernt. Im weiteren Verlauf werden zudem im Hintergrund immer wieder in Radios oder TVs laufende Tracks benutzt, um unterschwellig kommende Entwicklungen anzukündigen.
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In der doppeldeutig betitelten Sci-Fi-Comedy „The World‘s End“ geht es mit diesem Trick ähnlich weiter. In einem Flashback zu Beginn des Films vermittelt der sich um Drogen, Alkohol und Party-Exzesse drehende Song „Loaded“ von Primal Scream zudem punktgenau die Attitüde der Hauptfiguren als Teenager. Wenn wir sie anschließend in der Gegenwart als 40-Jährige treffen, ist nur noch Gary (Simon Pegg) so drauf wie früher, während die anderen erwachsen und „vernünftig“ geworden sind.
Aber als sie eines fatalen Tages wiedervereint in alte Gewohnheiten zurückfallen, werden sie dabei von den Britpop-Songs ihrer Jugend in den hedonistischen frühen 90ern begleitet: „Step On“ von den Happy Mondays, Suedes lässiges „So Young“ oder das psychedelische „Fool‘s Gold“ von The Stone Roses leisten hier tolle Dienste. Und pointierter als mit dem düster-apokalyptisch donnernden „This Corrosion“ der Gothic-Rock-Institution The Sisters Of Mercy hätte man die abgefahrene Chose wirklich nicht beenden können.
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Die Musik zu "Scott Pilgrim" und "Baby Driver":
„Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“ stellt in vielerlei Hinsicht ein „erstes Mal“ in der Filmografie von Wright dar. Er hatte nie zuvor mit so großem Budget (kolportierte 85 Millionen Dollar im Vergleich zu den etwa zehn Millionen von „Hot Fuzz“) gearbeitet, drehte in Nordamerika statt in Großbritannien, hatte weder Simon Pegg noch Nick Frost an seiner Seite und adaptierte erstmals anstelle seiner eigenen Ideen die Vorlage eines anderen Autors (Bryan Lee O'Malleys Graphic-Novel).
Zudem engagierte er zum ersten Mal jemanden, der extra neue Songs für einen seiner Filme schrieb – nämlich den zu dieser Zeit sehr populären Beck. Trotzdem ist die Musik bei dem gelungen zwischen Coming-Of-Age-Abenteuer, RomCom und abgedrehter Fantasy-Action changierenden „Scott Pilgrim“ ebenso effektiv. Der Alternative-Rockstar hatte sich offenbar Wrights Anweisungen zu Herzen genommen und schrieb dem Titelhelden und erfolglosen Musiker (Michael Cera) eine ganze Reihe von ihn ausführlich erklärenden Kompositionen auf den Leib.
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Auch „Baby Driver“ ist, was die meisten Belange betrifft, anders als Wrights frühere Filme. Dennoch kehrte er hier zur Verwendung bereits produzierter, teilweise Jahrzehnte alter Musik zurück. Die Eröffnungsszene mit dem Banküberfall und der anschließenden Flucht, während der Baby (Ansel Elgort) auf voller Lautstärke das hämmernde „Bellbottoms“ von der Jon Spencer Blues Explosion über seinen iPod hört und wie ein Teufel aufs Gaspedal tritt, etabliert den Charakter des eigenwilligen Fluchtwagenfahrers ebenso elegant wie dynamisch – und zwar ohne, dass dieser innerhalb der fünf Minuten ein einziges Wort sprechen muss.
Es gibt noch viele andere Momente in diesem unserer Meinung nach mächtig am Meisterwerk-Status kratzenden Action-Krimi, in denen Musik von Rock über R & B und Rap bis Jazz eine ähnlich wichtige Rolle spielt. Was erklärt, weshalb das Soundtrack-Doppelalbum ein solcher Hit war, dass die Plattenfirma sich genötigt sah, fast ein Jahr nach dem Kinostart einen zweiten Teil mit weiteren Songs aus dem Film nachzuschieben.
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"Last Night In Soho" läuft jetzt in den deutschen Kinos
Die clevere Verwendung von großartiger Musik ist längst nicht der einzige Grund, sich den jetzt bundesweit in den Kinos anlaufenden „Last Night In Soho“ anzuschauen. Sie ist aber ganz sicher einer der stärksten Trümpfe von Edgar Wrights neuem Geniestreich. Ihr solltet daher diesen Film auf keinen Fall im Kino verpassen.
Falls ihr noch mehr über die weiteren Stärken neben der Musik wissen wollt, verweisen wir euch auf die FILMSTARTS-Kritik, in der unser Chefredakteur Christoph Petersen 4,5 Sterne vergibt.
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