+++Meinung+++
Na, wer erinnert sich? Das berühmte und regelmäßig von der Filmkritik gefeierte Brüdergespann Ethan und Joel Coen hat vor drei Jahren mit „The Ballad of Buster Scruggs“ seine letzte Regiearbeit abgeliefert. Ethan Coen hat seither die Lust am Filmemachen verloren, aktuell warten Filmfans daher gespannt auf Joel Coens Solo-Regiearbeit „The Tragedy of Macbeth“
Und auch wenn man sich die Wartezeit auf die Shakespeare-Adaption durchaus mit dem exklusiv für Netflix produzierten Western-Episodenfilm versüßen kann, so gibt es derzeit auf dem Streamingdienst (sowie bei seinem Konkurrenten Amazon Prime Video) eine noch bessere Option. Nämlich in Form eines anderen von den Coens geschriebenen und inszenierten Westernfilms: „No Country for Old Men“.
›› "No Country For Old Men" bei Amazon Prime Video*
Darin sehen wir Josh Brolin, bevor er zu Thanos und somit dem MCU-Schurken überhaupt wurde, sowie Javier Bardem in der Performance, mit der er sich für den Antagonisten-Part im Bond-Film „Skyfall“ empfohlen hat. Doch nicht nur das: „No Country for Old Men“ besticht mit einer meisterlichen Umsetzung eines nicht oft genug besungenen Talents der Coen-Brüder, nämlich der gleitend wechselnden Tonalität ihrer Filme.
Das Böse kommt auf leisen Sohlen: Die Handlung
Der Südwesten von Texas im Jahr 1980: Der wortkarge Vietnamveteran Llewelyn Moss (Josh Brolin) entdeckt während der Jagd mitten in der Wüste die Überreste eines regelrechten Blutbads. Für ihn sieht es nach den tödlichen Folgen eines missglückten Drogendeals aus, bei dem ein Koffer mit zwei Millionen Dollar verloren gegangen ist. Moss nimmt den Koffer an sich – und macht sich somit unwissentlich zur Zielscheibe des eiskalten Profikillers Anton Chigurh (Javier Bardem).
Dorfsheriff Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones) weiß, in welche Gefahr sich Llewelyn Moss somit begeben hat, und nimmt sich vor, den Ahnungslosen vor Chigurh zu beschützen. Doch der langsam und müde gewordene Gesetzeshüter hinkt dem ungewöhnlich frisierten Killer stets einen Schritt hinterher. Er fühlt sich zunehmend fremd in einer Welt, die einem nach ganz eigenen Regeln operierenden Mörder nichts entgegenzusetzen weiß …
Die besten Western aller ZeitenEin genialer Genre-Tintenkleckstest
Ein nahezu unnachahmliches Markenzeichen der Coen-Brüder ist, dass viele ihrer Filme aus verschiedenen tonalen Perspektiven funktionieren. Die Hiobs-Geschichte in „A Serious Man“ kann bitterböse Komik oder verschmitzte Tragik sein. „Barton Fink“ ist grotesker Grusel, bissige Komik und dramatische Metapher auf den kreativen Schöpfungsprozess. Und „Fargo“ ist kauziger Krimi, albern-bissiger Kommentar auf das Genre und blutige Kleinstadtdramödie zugleich – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Auch die Stimmung und Grundtonalität von „No Country for Old Man“ ist überaus variabel – die Zuschauer*innen haben quasi selbst in der Hand, welches Erlebnis ihnen bevorsteht. Es hängt ganz von der eigenen Tagesform ab. Fühlt man sich näher am melancholischen Ed Tom Bell, der bedauert, wie sehr ihm die jüngsten Entwicklungen entgleiten? Dann ist „No Country for Old Men“ ein kummervoller Western-Abgesang und tragischer Kommentar auf schwindende, unausgesprochene Moralvorstellungen. Doch genauso kann man sich auch von Tommy Lee Jones' trägem Knurrhahn distanzieren und „No Country for Old Men“ als staubtrockene Abrechnung mit Selbstmitleid, dem Vermissen der „guten alten Zeit“ sowie Schwarz-Weiß-Weltanschauungen verstehen.
Wer sich früh auf Llewelyn Moss' Wellenlänge einstellt, erlebt mit „No Country for Old Men“ hingegen einen von Kameralegende Roger Deakins auf betörend-schöne Weise gefilmten, stylisch-staubigen Neo-Noir-Westernthriller, der im 80er-Jahre-Nirgendwo-Setting noch einmal den einsamen Westernhelden aufleben lässt. Brolin ist hervorragend in der Rolle des rau-charmanten Haudegen, und es überrascht daher kein Stück, dass seine Mitte der 80er-Jahre begonnene Karriere seit „No Country for Old Men“ ein neues Hoch erlebt.
Doch „No Country for Old Men“ ist zugleich eine auf perfide Weise amüsante, pechschwarze Komödie: Anton Chigurh (Javier Bardem) ist eine herzlose, unaufhaltsame Killermaschine, der Bardem nicht nur eine schaurige Aura verleiht, sondern auch eine unterhaltsame Verschrobenheit. Und die Coens haben eine zynische Freude daran, diesen Killer durch seltsame Situationen schreiten zu lassen. Kein Wunder, dass man Bardem nach „No Country for Old Men“ bat, für „Skyfall“ einen gleichermaßen kauzigen wie sinistren Bond-Schurken zu spielen.
Obendrein sind die wenigen Filmmomente mit Woody Harrelson als Südwest-Business-Karikatur zum Schreien komisch, während viele andere Sequenzen haargenau auf der Linie zwischen „sehr lustig, aber das Lachen bleibt im Halse stecken“ und „der langsam ausgebreitete Pessimismus verwandelt sich in schneidende Spannung “ wandeln.
Rewatch-Faktor? Enorm!
Dank der versierten Regiearbeit der Coens und des doppel- oder gar dreifachbödigen Skripts mit seinen clever eingefädelten Archetypen, ist all dies keineswegs ein Negativargument, sondern ein deutlicher Pluspunkt an „No Country for Old Men“. Denn mehr noch als etwa die schon genannten „Barton Fink“, „Fargo“ oder „A Serious Man“ lässt sich dieser Oscar-Abräumer immer wieder neu entdecken.
Daher ist es ganz gleich, ob ihr „No Country for Old Men“ schon kennt oder erstmals entdecken müsst: Der Film hat so viele Facetten, dass es sich lohnt, ihn mehrmals zu gucken. Versucht doch gerne ein paar Double Features! Im Doppel mit dem im selben Oscar-Jahr erschienenen „There Will Be Blood“ stimmt man sich hervorragend auf seine ernsteren Klänge ein. Gepaart mit dem Coen-Western „True Grit“ hat man einen das Genre reflektierenden Westernabend. Und im Zusammenspiel mit der sarkastischen Spionagekomödie „Burn After Reading“ wird der kauzige Zynismus des Films noch deutlicher. Und das sind nur drei von zahllosen Kombinationsmöglichkeiten …
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