Es gibt verschiedene denkbare Interpretationen, worauf sich der Filmtitel „Beginning“ genau bezieht. Die banalste (und nicht sehr wahrscheinliche) Möglichkeit wäre aber ganz einfach, dass die Autorin und Regisseurin Dea Kulumbegashvili damit angeben will, dass ihr in ihrem Spielfilmdebüt auf Anhieb eine der verstörendsten, intensivsten und überraschendsten Eröffnungssequenzen der Kinogeschichte gelungen ist!
Der Film beginnt mit einer viele Minuten langen, starren Einstellung: In einem Gebetshaus einer kleinen Gemeinde der Zeugen Jehovas in Georgien steht ein Gottesdienst an. Die Frau des örtlichen Glaubensvorstehers weist ein paar Jungen, die sich vorab beim Fußballspielen dreckig gemacht haben, dazu an, sich zur Strafe mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke zu stellen. Langsam füllt sich der Raum. Sobald sich die Gläubigen auf die Bänke gesetzt haben, sehen wir nur noch ihre Hinterköpfe.
Schließlich beginnt der Vorsteher mit seiner Predigt – es geht um Abraham, der von Gott dazu angewiesen wird, seinen eigenen Sohn zu opfern. Und dann, mitten in einem Satz und ohne jede Vorwarnung, fliegt plötzlich ein Molotowcocktail durchs Fenster. Geschrei und Panik bricht aus. Wenig später folgt ein zweiter Flammencocktail. Fenster werden mit den Bänken eingeschlagen, um irgendwie rauszukommen…
Zu sagen, dass „Beginning“, der diesjährige Kandidat Georgiens im Rennen um den Oscar für den Besten internationalen Film, mit einem Paukenschlag beginnt, wäre eine absolute Untertreibung…
Radikal erzählt: Die Täter des Brandanschlags wurden zwar auf Video festgehalten, aber die Chancen, dass die Polizei etwas unternimmt, stehen trotzdem schlecht. Die Gläubigen werden als Störenfriede wahrgenommen – und es wird ihnen mehr oder weniger durch die Blume vermittelt, dass sie deshalb selbst schuld seien. Im Zentrum der Erzählung steht dabei Yana (Ia Sukhitashvili), die Frau des Predigers, die wenig später auch noch in ihrer eigenen Wohnung Opfer eines sexuell übergriffigen Polizisten wird.
Aber „Beginning“ mündet nicht in eine geradlinige Anklage der patriarchalen Strukturen in Georgien und innerhalb der Zeugen Jehovas. Stattdessen wird Yanas offensichtlicher Wunsch, aus diesen Strukturen auszubrechen, schmerzhaft-radikal weitergesponnen – bis hin zu einer ebenfalls wieder mehrminütigen Szene, in der es naheliegt, dass sich Yana absichtlich vergewaltigen und sogar fast mit einem Stein erschlagen lässt.
Will sie so Gott, ihren Mann oder die Gesellschaft provozieren? Will sie sich selbst bestrafen – oder sich selbst umbringen? Will sie einfach nur raus, egal wie? Dea Kulumbegashvili stellt mit ihrem Debüt komplexe, provokante Fragen – liefert aber erwartungsgemäß keine leichten Antworten…
Radikal inszeniert: Das Gefühl der Enge oder gar des Eingesperrtseins transportiert Dea Kulumbegashvili auch mit ihrer ebenso strengen Inszenierung – und ihre präzise eingesetzten Mittel erschöpfen sich dabei längst noch nicht in dem Umstand, dass sie mit dem inzwischen ungewöhnlichen Seitenverhältnis 1:1.33 ein von Natur aus einengendes Bildformat ausgewählt hat.
In einer der eindrucksvollsten Szenen erreicht Dea Kulumbegashvili mit minimalen Mitteln einen maximalen Grad an Verstörung: Yana fährt mit dem Bus, wobei der Fahrgast hinter ihr seine Finger über ihre Kopfstütze legt. Wahrscheinlich ist das absolut harmlos und die Situation wird auch nie aufgelöst oder eskaliert. Aber allein die unerwartete Wahl des Bildausschnitts lässt einen ihr Unwohlsein regelrecht am eigenen Körper mitfühlen:
Das Übrige tut das famose Sounddesign, bei dem immer wieder auch vermeintlich harmlose Umgebungsgeräusche mit einem befremdenden Effekt eingesetzt werden. „Beginning“ ist ganz sicher kein leichter Film. Viele werden sich gar nicht erst rantrauen, andere werden den Film nicht bis zum Ende durchstehen. Und trotzdem darf man sich jetzt schon sicher sein, dass „Beginning“ der Beginn einer verheißungsvollen Karriere im europäischen Arthouse- und Festivalkino für Dea Kulumbegashvili sein wird.
„Beginning“ könnt ihr euch ab heute (29. Januar 2021) für die nächsten 30 Tage bei MUBI anschauen.