+++ Meinung +++
Wenn ich eine Kritik zu einem Netflix-Original schreibe, dann gibt es einen Satz, den ich inzwischen fast schon hinschreiben kann, bevor ich überhaupt reingeschaut habe: „Der Film ist leider eine halbe Stunde zu lang.“ Das ist längst ein strukturelles Problem in der Produktionsabteilung des Streaming-Riesen:
Klar ist es prinzipiell super, dass die Regisseure bei Netflix mehr Freiheiten bekommen als anderswo – aber mittlerweile führt diese Freiheit immer häufiger zu einem Exzess, der sich vor allem in der Spieldauer niederschlägt. Und das ist leider nicht die gute Art von Exzess, der Filme aufregend macht – sondern die schlechte Art von Exzess, der Filme wie Kaugummi in die Länge zieht.
Eine Teenie-RomCom mit epischen Ausmaßen
„The Kissing Booth 2“ schießt dabei nun den Vogel ab: Das romantische Teenie-Sequel hat eine Spielzeit von zwei Stunden und zehn Minuten! Der erste Teil war mit 105 Minuten schon an der oberen Grenze in diesem Genre – aber 130 Minuten sind der pure Wahnsinn.
Bei der Länge erwartet man im Kino ein gewaltiges Schlachtenepos, ein generationenumspannendes Melodram oder einen MCU-Blockbuster mit Dutzenden Helden – aber doch keinen Teenie-Film über eine selbstgebastelte Knutschkabine.
Die Regel und nicht die Ausnahme
Mal passieren solche Ausreißer auch im Kino. Etwa bei den Komödien von Judd Apatow („The King Of Staten Island“), die in der Regel ebenfalls 20 bis 30 Minuten länger sind, als man es in dem Genre eigentlich erwarten würde. Aber bei Netflix-Filmen sind 30 Minuten zu viel inzwischen längst die Regel und nicht länger die Ausnahme.
Filme wie „Eurovision Song Contest: The Story Of Fire Saga“, „Tyler Rake: Extraction“ oder „The Old Guard“ haben uns zwar allesamt gefallen – aber sie alle wären trotzdem noch besser gewesen, wenn jemand 20 Minuten Füllmaterial herausgeschnitten hätte. Und dann gibt es da noch Totalausfälle wie „The Last Days Of American Crime“, bei dem die Laufzeit von zweieinhalb Stunden für einen ideenarmen Sci-Fi-Wegwerf-Thriller schlicht eine Frechheit ist!
The Last Days of American CrimeDer Fehler liegt im System
Netflix lockt auch deshalb namhafte Regisseure weg vom Kino, weil das Streaming-Portal ihnen nicht nur viel Geld, sondern in vielen Fällen auch ein höheres Maß an kreativer Freiheit zur Verfügung stellt. Aber selbst wenn sich das zunächst super anhört, muss sich das künstlerisch nicht unbedingt auszahlen – schließlich entstehen kreative Ideen oft aus einer gewissen Limitation (ob nun finanziell, technisch oder auch die Laufzeit betreffend) heraus.
Bei Netflix fehlen diese Limitationen aber oft – und so erscheinen auf dem Portal regelmäßig Filme, die bei Hollywoodstudios noch den Status einer „ersten Schnittfassung“ hätten. Natürlich ist es in der Geschichte schon oft genug vorgekommen, dass die Studios so eine erste Fassung anschließend mit ihren Schnitten zerstört haben. Aber den Filmemachern alles durchgehen zu lassen, ist auch keine Lösung – grundlose Mammutwerke wie „The Last Days Of American Crime“ oder jetzt „The Kissing Booth 2“ sind der Beweis dafür.
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