Achtung, folgender Text enthält massive Spoiler zur zweiten Staffel „Tote Mädchen lügen nicht“!
Schon direkt im Anschluss an die erste Staffel haben wir gesagt, dass eine Fortführung der Netflix-Hitserie „Tote Mädchen lügen nicht“ ziemlicher Schwachsinn wäre. Nun wurde am 18. Mai 2018 die zweite Season auf dem Streamingdienst online gestellt und nachdem die letzte Folge mit einem Cliffhanger zu Ende gegangen ist, schlug ich auf der Stelle die Hände über dem Kopf zusammen und rief laut durch's Zimmer: „Ach nö, echt jetzt?“
Mein Ersteindruck von der Staffel in Bezug auf inhaltliche Redundanz sowie dramaturgische Durststrecken hatte sich bis dato ohnehin schon bestätigt gehabt – ja, die neue Runde hat mich stellenweise echt gelangweilt. Aber nachdem die letzte Episode über meine Mattscheibe geflimmert ist, habe ich mir sofort Gedanken darüber gemacht, wie es wohl in einer dritten Staffel weitergehen könnte. Und dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass eine weitere Fortsetzung sogar noch bescheuerter wäre als die davor. Nachfolgend erkläre ich euch, warum ich das so sehe und weshalb die „Toten Mädchen“ meines Erachtens den perfekten und sicherlich ganz besonders aufsehenerregenden Absprung verpasst haben.
Das Ende von Staffel 2
Staffel zwei von „Tote Mädchen lügen nicht“ endet mit einem Beinahe-Knall: Wie alle anderen leidet auch der Schulfotograf Tyler (Devin Druid) unter den Ereignissen aus der vorherigen Season und muss zusehen, wie er diese verarbeitet. Einige rebellische Ausflüge mit seinem neuen Kumpel Cyrus (Bryce Cass) scheinen dabei wirklich zu helfen, doch spätestens als Tyler von Montgomery (Timothy Granaderos) schwer misshandelt wird, scheint alles zu spät:
Tyler packt die Schutzweste und die halbautomatischen Schusswaffen aus und macht sich fest entschlossen zum Schulball auf. Dort kann ihn Clay (Dylan Minnette) gerade so von einem Amoklauf abbringen. Bevor die Polizisten eintreffen, wird Tyler dann von Tony (Christian Navarro) in Sicherheit gebracht, Clay hingegen steht plötzlich mit dem Gewehr in der Hand da, das ihm Tyler kurz vorher noch ausgehändigt hat. Damit geht die zweite Staffel zu Ende – ein eindeutiger Cliffhanger!
Mehr Drastik
„Nein, das trauen die sich nicht, niemals“, habe ich mir die ganze Zeit gedacht, als Tyler schwer bewaffnet Richtung Schulhalle marschierte. In der Tat, und sicher zur Erleichterung vieler Fans, kommt es doch nicht zur ganz großen Tragödie. Aber gerade das finde ich am Ende so problematisch, denn rückblickend wünschte ich, man wäre – trotz des dadurch vorprogrammierten Aufschreis – aufs Ganze gegangen.
Ganz offensichtlich wollten die Verantwortlichen nach den inhaltlichen Schwerpunkten rund um Suizid und Mobbing mit Waffengewalt an Schulen ein neues Themenfeld aufmachen und sich dabei auch noch die Möglichkeit für eine weitere Staffel offenhalten. Aber wie erzählt man effektiv und aufrüttelnd von einem Amoklauf, wenn man ihn ultimativ nicht geschehen lässt?
„Tote Mädchen“-Schöpfer und Showrunner Brian Yorkey erzählte in einem Interview mit dem Hollywood Reporter, dass es in erster Linie um Tylers Gemütszustand ginge, und darum zu verstehen, wie jemand überhaupt zu solch einer drastischen Entscheidung kommen kann, statt zu zeigen, wie er seine Pläne auch durchführt. Aber weil Tyler den Abzug nicht gedrückt hat, sind seine Absichten (noch) ohne schwerwiegende Konsequenzen und im Falle des Ausbleibens einer weiteren Staffel werden sie es auch immer bleiben. Dabei wurde ein möglicherweise stärkeres Statement gegen Waffengewalt verpasst.
Der fehlende Schock
Denn gerade weil man zwei Staffeln lang mit den Figuren so mitgelitten hat und ihnen so nähergekommen ist, wäre ihr Tod so tragisch und in seiner Wirkung beim Zuschauer auch so mächtig gewesen. Ein radikaler und kontroverser Schritt wäre das, keine Frage, aber meiner Meinung nach ein folgerichtiger, der wie schon Hannahs (Katherine Langford) Selbstmord aus Season eins direkt und ungeschönt die grausame Realität hätte abbilden können. Wäre das nicht pietätlos? Vielleicht. Am Tag der Veröffentlichung von Staffel zwei kam es in Houston, Texas, zu einem Amoklauf, bei dem zehn Menschen getötet und 13 weitere verletzt wurden. Im Zuge dessen wurde auch die geplante Premierenfeier abgesagt.
Trotzdem: Während in unserer Ära der fix durchlaufenden Nachrichtenfeeds auch die Meldung eines solch tragischen Ereignisses mit jungen Opfern von vielen leider viel zu schnell wieder ad acta gelegt wird, hätte der fiktionale Tod ausgedachter Figuren, in die aber Millionen von Menschen viel Zeit und Gefühle investiert haben – so zynisch das zunächst anmuten mag – bestimmt eine nicht zu unterschätzende Schockwirkung bei großen Teilen des Publikums gehabt – eine, die wachrüttelt und vielleicht für noch mehr Gesprächsstoff gesorgt hätte, als es die Serie ohnehin schon bislang getan hat. Das hat zwar definitiv einen bitteren Beigeschmack und es steht natürlich außer Frage, dass der Tod fiktionaler Figuren in keinem Fall über den realer Menschen gestellt werden darf, doch so manche Zuschauer, die tatsächliche Schockmeldungen in den Nachrichten partout nicht an sich ranlassen, könnten auf diesem Wege vielleicht eher erreicht und für das Thema sensibilisert werden, um dann auch ihren Blick auf das reale Geschehen zu richten.
Ein guter Mittelweg wäre ebenfalls drin gewesen: Bei der letzten Episode hätte man Tyler als rahmende Erzählstimme einsetzen und somit eine subjektive Perspektive etablieren können. Der Amoklauf hätte dann zur Gänze stattfinden können, aber da schon Hannah zuvor als unsichere, nicht immer absolut vertrauenswürdige Erzählerin etabliert wurde, hätte das natürlich auch für Tyler gelten können. Staffel zwei wäre also mit den toten Mitschülern zu Ende gegangen und dennoch hätte man ein winziges und weitaus weniger offensichtliches Hintertürchen für eine Fortsetzung offen halten können. Hat Tyler das wirklich getan oder sich das nur in Gedanken ausgemalt? Die Antwort darauf hätte man dann nachgereicht und wenn nicht, dann wäre es immer noch bei einem kontroverseren Finale geblieben.
Nichts zu erzählen
Doch der in meinen Augen ganz sicher nicht billige Aufreger blieb aus und das lässt Raum für noch mehr Durchschnittlichkeit. Denn was soll jetzt noch kommen? Am Ende der ersten Staffel wurde bereits gezeigt, dass Tyler ein großes Waffenarsenal hortet, wohl weil er schon zu diesem Zeitpunkt eine Schießerei plant. Damals und während der gesamten neuen Season wird immer wieder auf seinen seelischen Zustand eingegangen. Demzufolge wissen wir als Zuschauer doch zur Genüge über seine Motivation Bescheid, die am Ende der neuen Staffel auch noch zusätzlichen Nährboden bekommt – wovon sollte dann eine mögliche dritte Runde in Bezug auf seine Figur dann noch handeln?
Klar, man könnte zeigen, wie er vor der Staatsgewalt flieht und wie die anderen versuchen, ihm diese Idee endgültig auszutreiben. Aber ganz ehrlich, viele Optionen bleiben auch nicht. Tyler wandert entweder ins Gefängnis oder wird geläutert, aber ich sehe einfach noch nicht, inwieweit man seiner Persönlichkeit noch etwas Neues abgewinnen könnte.
Das Problem besteht auch für viele andere Figuren, deren Entwicklungen für mich am Ende von Staffel zwei weitestgehend abgeschlossen wirken. Die meisten mussten sich der Vergangenheit und ihrer Rolle im Selbstmord von Hannah stellen und dies verarbeiten. Am Ende, so scheint es, haben sie das Gröbste überwunden und sind nun bereit, ihre Leben weiterzuleben, womit die Hannah-Baker-Geschichte zu Ende geht – dafür exemplarisch steht zum Beispiel der Moment, in dem Clay der Erscheinung von Hannah direkt Lebewohl sagt.
Künstliche Konflikte
Abgesehen vom gefährlichen Tyler, auf den die anderen jetzt erstmal nur reagieren können, und dem neuen Obermacker der Schule Montgomery – Bryce (Justin Prentice) muss ja bekanntlich die Schule wechseln – bleiben eigentlich kaum noch spannende Handlungsstränge und Konflikte, die in meinen Augen auch nur noch eher künstlich erzeugt werden: Im Falle einer dritten Staffel dürfte das Liebesdreieck aus Alex (Miles Heizer), Jessica (Alisha Boe) und Justin (Brandon Flynn) noch eine zentrale Rolle spielen.
Nach all dem, was sie durchgemacht haben: Muss das unbedingt sein? In der letzten Folge geht Jessica mit Alex zum Ball, nur um ihn wenig später mit ihrer alten Flamme Justin zu betrügen. Die Vorstellung, dass deren Beziehungsprobleme auf eine ganze weitere Staffel ausgedehnt werden, finde ich persönlich uninteressant, unnötig und im Anbetracht der bisherigen Ereignisse, die sie durchlebt haben, als überflüssige, zusätzliche Strafe für sie und eigentlich für den Zuschauer als weitaus weniger relevant.
Und wo ich bei Justin bin: Er hat eine der spannendsten und besten Entwicklungen der gesamten Serie durchgemacht! Vom Sport-Ass, dem die Frauen zu Füßen liegen, der sich als seelisch schwer verletzter Junge aus ärmlichen Verhältnissen entpuppt, zum Drogenjunkie und zuletzt zum reumütigen jungen Mann, der die Seiten wechselt, um das Richtige zu tun – seine Figur war wirklich toll geschrieben, bis zu jenem unsäglichen Moment, als er zum Ende der Staffel hin sich klammheimlich erneut eine Heroinspritze in den Fuß setzt. In der betreffenden Szene hat er eine Vision von seinem jüngeren Ich und zögert und das hätte ein großartiger, finaler Moment sein können, in dem er wirklich den Drogen abschwört. Aber nein, er wird rückfällig und für mich sieht es nur wie ein einfacher Trick der Autoren aus, etwas mehr Erzählstoff für die Zukunft einzuleiten.
3. Staffel kann nur scheitern
Cheerleaderin Chloe (Anne Winters) ist übrigens schwanger und hat es vergeigt, wirklich gegen Bryce auszusagen. Ist das noch spannend? Mit dem Schulwechsel wird der einstige Oberfiesling ohnehin nicht mehr die große Antagonistenrolle einnehmen, so scheint es. Die Beweisfotos aus dem Clubhaus hat Nina (Samantha Logan) verbrannt, weshalb auch dieser potenziell spannende Erzählstrang offenbar keine große Rolle mehr spielen wird. Und zu guter Letzt ist auch Hannah weg, die Figur, die alles ins Rollen brachte, und deswegen, so Brian Yorkey im Gespräch mit Entertainment Weekly, würde sie auch kaum noch präsent sein in einer weiteren Season.
Es bleibt also nicht genug Erzählmaterial übrig, das man auf spannende Art und Weise auf 13 neue Folgen strecken könnte und um diese ausreichend zu füllen, müssten meines Erachtens neue Probleme an den Haaren herbeigezogen werden. Für mich jedoch ist „Tote Mädchen lügen nicht“ komplett auserzählt und hätte mit der zweiten Staffel enden müssen. Ob eine dritte noch folgen wird, steht noch nicht fest, aber Yorkey zufolge habe er noch weitere Geschichten zu erzählen. Aber welche?
Die zweite Staffel „Tote Mädchen lügen nicht“ ist seit dem 18. Mai 2018 komplett bei Netflix zu sehen.