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    Die 2. Staffel "Jessica Jones" und #MeToo: Warum die Marvel-Serie brandaktuell ist

    Männer mit Macht, Schuldzuweisungen und starke Frauen, die dennoch Opfer sein können: Auch in der 2. Staffel „Jessica Jones“ stecken Themen, die in Zeiten der #MeToo-Bewegung aktueller denn je sind. Unser Autor Tim Seiffert hat sich Gedanken gemacht.

    David Giesbrecht/Netflix

    Achtung: Der nachfolgende Artikel enthält SPOILER zum Ende der ersten Staffel von „Marvel’s Jessica Jones“, sowie zu Handlungsteilen der ersten fünf Folgen der zweiten Staffel! Weiterlesen auf eigene Gefahr!

    Im Oktober 2017 wurde Harvey Weinstein, einer der bekanntesten und einflussreichsten Produzenten Hollywoods, in einem Artikel der New York Times von zahlreichen Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt. Die Veröffentlichung ermutigte zahlreiche Frauen, aber auch Männer, über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen, was in den folgenden Monaten – auch in den Reaktionen gegenüber den möglichen Opfern – vor allem eins ans Licht brachte: So vorurteilsfrei, gleichberechtigt und offen sich unsere moderne Gesellschaft gerne sieht, ist sie in der Realität noch lange nicht. Als der Skandal, der sich längst in eine heftig umkämpfte Grundsatzdiskussion verwandelt hat, seinen Anfang nahm, waren die Dreharbeiten für die zweite Staffel von „Jessica Jones“ schon beendet. Gerade deshalb ist es fast erstaunlich, wie treffsicher sich in den neuen Folgen der Marvel-Serie auf verschiedene Aspekte der #MeToo-Debatte bezogen wird, wie Schuld-, Macht- und Rollenzuweisungen – manchmal trocken-ironisch – thematisiert werden.

    Nein heißt nein

    Auch in der zweiten Staffel ist Krysten Ritters Jessica Jones mit Sicherheit niemand, die sich von irgendjemand irgendwas gefallen lässt. Die notorische Trinkerin mit der ebenso gewohnheitsmäßig miesen Laune weiß sich abgesehen von ihrer körperlichen Kraft auch durchaus verbal zu erwehren, wenn sie mit beißenden Sarkasmus oder schlicht rüden Beleidigungen zurückfeuert. Das bekommt auch Pryce Cheng (Terry Chen), der Chef einer konkurrierenden Privatermittlerfirma, zu spüren, als er versucht, Jessicas Detektei Alias Investigations durch eine Übernahme auszuschalten. „Ich akzeptiere kein Nein“, verkündet er selbstbewusst, wohl von der üblichen Wirkung dieser Worte überzeugt. Jessica gibt nur trocken zurück: „Wie vergewaltig von dir“ (in der etwas unglücklichen deutschen Übersetzung, „How rapey of you“ im englischen Original).

    Dieses Wortgefecht zeigt, wie subtil es Serienschreiberin Melissa Rosenberg („Dexter“) vermag, bestimmte Aspekte des männlich-weiblichen Geschlechterverhältnisses herauszuarbeiten. In Anspielung auf das – eigentlich selbstverständliche – „nein heißt nein“ beim Sex wird eine Redewendung, die sonst wohl in ihrer Alltäglichkeit sofort vergessen worden wäre, zu einem Finger in der Wunde. Chengs Selbstbewusstsein wird als männliches Selbstverständnis entlarvt, in dem ein Nein keine Option, sondern nur eine kurze Irritation, vielleicht sogar ein Ansporn ist.

    Von mächtigen Männern und der Umkehrung der Schuld

    Dieses männliche Selbstbild und die Art, wie damit Handlungen gerechtfertigt werden, wird in den neuen Episoden auch an anderen Stellen thematisiert. Dabei ist die Serie, besonders im Hinblick auf die aktuelle Debatte, überraschend konkret – geht es doch um die Ausnutzung von Macht in der Filmindustrie.

    Jessicas beste Freundin Trish Walker (Rachael Taylor) war vor ihrer Karriere als Radiomoderatorin ein Kinderstar. Doch nun muss sie sich mit traumatischen Erlebnissen aus eben dieser Zeit zwischen Kindheit und Jugend auseinandersetzen, denn als Trish 15 Jahre alt war, missbrauchte der damals 40-jährige Regisseur Max (James McCaffrey) sie mit der Erlaubnis ihrer Mutter (Rebecca De Mornay), die als Gegenleistung die Hauptrolle für ihre Tochter in einem seiner Filme bekam. Heute mit den Vorwürfen konfrontiert, ist sich Regisseur Max keiner Schuld bewusst, schiebt sie sogar der zu dieser Zeit minderjährigen Trish zu. Sie habe sich an ihn rangemacht, sich in sein Bett gelegt. Eine fadenscheinige Argumentation, die in einigen der vorurteilsbehafteten Reaktionen auf die Belästigungs- und Missbrauchsvorwürfe gegenüber Schauspielern, Regisseuren und Produzenten in den vergangenen Monaten immer wieder aufgetaucht ist und ein Bild von jungen Frauen entstehen lassen soll, die alles dafür tun, um aufzusteigen.

    Damit wird nicht nur der einfach Ausweg aus der eigenen Verantwortung, sondern auch eine perfide Logik aufgedeckt: Schuld, Scham und Reue bei den Opfern sollen diese davon abhalten, über das Geschehene reden. Gerade die Rolle der Mutter verdeutlicht dabei, dass eben nicht nur die Täter das Problem sind, sondern auch ein System, das junge Frauen solchen Vorgängen und Machtverhältnissen ausliefert.

    Starke Frauen, starke Opfer

    Das Geschilderte ist nicht erst seit der zweiten Staffel in „Jessica Jones“ ein Thema, schon in der ersten Staffel war mit Kilgrave (David Tennant) eine Figur eingeführt worden, die unreflektiert ist, die eigene Schuld auf andere überträgt und Macht missbraucht, wenn auch auf andere Weise. Er hatte telepathische Kräfte und glaubte, dass teure Restaurantbesuche und luxuriöse Hotels körperliche wie geistige Vergewaltigung legitimieren würden – auch wenn er das selbst, dank seines Egos, niemals so bezeichnet oder erkannt hätte.

    Selbst körperlich starke Frauen wie Jessica, aber auch anderweitig mächtige Frauen wie Trish, die als Showmasterin und Prominente eine große Reichweite hat, sind durch Erniedrigung, Scham und Schuldgefühle verletzbar. Auch sie können Opfer sein. Gerade Jessicas Charakter zeigt die langfristigen, psychischen Folgen in ihrer sozialen Isolation, den Vertrauensproblemen und den teilweise übertriebenen Abwehrreaktionen. Dass beide Frauen auf diese Weise eine große Hemmschwelle haben, über ihre Geschichten zu reden und sie eigentlich auch lieber weiter für sich behalten, ist ganz im Sinne ihrer Peiniger. Diese Dynamik, die schon in der ersten Staffel angesprochen wird, ist deshalb so wichtig festzuhalten, da gerade der #MeToo-Bewegung oft vorgehalten wird, dass selbst heute große, bekannte Schauspielerinnen teilweise jahrzehntelang gewartet haben, bis sie mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gingen.

    Frauen-Power ohne Bösewicht? Unser Eindruck zur 2. Staffel von "Jessica Jones"

    Denn vor allem starke Opfer, diejenigen die sich zur Wehr setzen, können schnell ins Fadenkreuz der Öffentlichkeit geraten. So hat sich die Bevölkerung der Stadt nach den Ereignissen der ersten Staffel gegen Jessica gewandt, sie wird offen als Mörderin bezeichnet. Obwohl sie Kilgrave in Notwehr getötet hatte und von diesem mehr oder minder zu der Tat getrieben wurde, ist es dieses Mal die Gesellschaft, die ihr Schuld für das Geschehene zuweist. Dass die Konsequenzen von Kilgraves Handlungen schlussendlich auch wieder Jessica angelastet werden und sich in Vorurteilen und Diskriminierung niederschlagen, passt ebenfalls zur aktuellen Debatte um Sexismus – wurde doch auch die Schuld am Abstieg einiger der Männer, bei denen sexuelle Belästigung und Schlimmeres nachgewiesen wurde, bei den Frauen gesucht, welche die Vorwürfe vorbrachten.

    Dass für die 13 Folgen der zweiten Staffel genauso viele Regisseurinnen engagiert und auch das Autorenteam um Melissa Rosenberg weitgehend weiblich besetzt wurde, dürfte wohl als Hinweis auf den eigenen Anspruch, aber auch als Zeichen gewertet werden. Ja, es gibt mächtige Männer, die ihre Positionen ausnutzen und ja, es gibt Ungerechtigkeiten im System, aber es gibt auch Bestrebungen, dies zu ändern und starke Frauen, die bereit sind sich dafür einzusetzen. Jessica Jones ist zwar meistens ein Arschloch, gehört aber zu ihnen und lässt sich in jedem Fall nicht unterkriegen...

    Alle Episoden der zweiten Staffel von „Jessica Jones“ sind seit dem 8. März 2018 weltweit auf Netflix verfügbar.

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