Top 10 von Siegfried Bendix
(freier Kritiker)
1. „Personal Shopper“
„Personal Shopper“ kreist frei und offen um sein Genre herum, lässt das Geistermotiv durch sämtliche Wahrnehmungsebenen sickern, bietet Themen im Überfluss an und bleibt trotzdem geheimnisvoll – und hat neben der atemstockendsten Suspense-Szene des Jahres auch eine sensationelle Kristen Stewart, an deren subtilen Qualitäten nun endgültig niemand mehr zweifeln sollte.
2. „Elle“
Ein Rape-and-Revenge-Thriller – und dann wieder doch nicht. Hier trifft der gern benutzte Satz, Genregesetze würden auf den Kopf gestellt, tatsächlich einmal zu. Paul Verhoeven hat mit Michèle (Isabelle Huppert) eine Frauenrolle erschaffen, wie es sie noch nicht gegeben hat – und dass „Elle“ bisweilen nach europäischer Arthouse-Gediegenheit aussieht, verleiht dem extremen und zutiefst ambivalenten Spiel mit Erwartungen einen zusätzlichen Dreh.
3. „A Ghost Story“
Mit „A Ghost Story“ bringt David Lowery einen Hauch der spirituellen Sinnlichkeit eines Apichatpong Weerasethakul ins amerikanische Independent-Kino. Mit Casey Affleck unter weißem Bettlaken, gefangen in der Unendlichkeit, der mit einem Geist im Nachbarhaus die berührendsten Blicke des Filmjahres austauscht, obwohl man statt Augen nur schwarze Löcher sieht.
4. „Der Ornithologe“
Ein Backpacker begegnet im Wald seinen Dämonen und Sehnsüchten, und wir treiben mindestens so irritiert und verwundert durch die Szenerie wie der Protagonist. Abenteuer, Tagtraum, queere Umdeutung katholischer Mythologie, nicht zuletzt auch eine Ode an das Stilmittel der Überblendung.
5. „Certain Women“
Besonders toll an Kelly Reichardts klischeefreien, zärtlichen Momentaufnahmen aus dem Leben dreier Frauen in Montana: Wie sich die Regisseurin ihre Protagonistinnen zunächst über die Stimmung von Räumen und Landschaften erschließt und den Film in warmen 16mm-Bildern durch Scheunen und über schneebedeckte Felder gleiten lässt.
6. „Western“
Valeska Grisebach paraphrasiert das Western-Genre und nutzt dessen Texturen für eine Reflexion über Fremdheit und die Observation von Männlichkeitsriten – neugieriges, komplexes und doch ganz unmittelbares Beobachtungs- und Begegnungskino.
7. „Nocturama“
Darf man einen Film über Terror in Paris drehen und sich für dessen Ästhetik mehr interessieren als für Politik? Ja, denn Bertrand Bonello entlarvt die Motive der jugendlichen Attentäter als austauschbar, gerade indem er sie nicht nennt. „Nocturama“ ist Generationenstudie und Genrefilm, mit Bezugspunkten von Godard bis „Dawn Of The Dead“ – und trotzdem maximal eigen.
8. „120 BPM“
Kurz war ich skeptisch, als Robin Campillo etwa in der Mitte seines pulsierenden Dramas über die Aids-Aktivisten-Gruppe Act Up den Blick aufs Private verlagert. Erst später entpuppt sich die Emotionalisierung als folgerichtig: „120 BPM“ bewegt sich vom Kollektiven ins Individuelle und wieder zurück, wenn die Trauer um den Tod eines Mitstreiters schließlich wieder umgemünzt wird in aktivistische Energie.
9. „Happy End“
Der Film, der Michael-Haneke-Verächtern besser gefiel als seinen Fans. Tatsächlich ist „Happy End“ nicht halb so didaktisch wie bei dem Calais-Background befürchtet wurde – das Flüchtlingselend ist bis auf zwei Szenen nur als Implikation enthalten. Und wer hätte gedacht, dass eine der furiosesten Tanzszenen des Jahres ausgerechnet aus einem Haneke-Film stammt?
10. „A Cure For Wellness“
Ein kleines Wunder: Ein mit Multimillionenbudget realisiertes künstlerisches Statement vom „Fluch der Karibik“-Regisseur, das sich in zweieinhalb Stunden vom Gothic-Gemälde mit „Der Zauberberg“-Anbindung zum infernalischen Pulp entwickelt.