Für einen Vollblutregisseur gibt es kaum etwas Schlimmeres, als über einen langen Zeitraum hinweg keinen neuen Film drehen zu können – das bestätigt uns auch Ildikó Enyedi, die vor „Körper und Seele“ 18 Jahre lang keinen Spielfilm finanziert bekommen hat. Aber das Am-Ball-Bleiben hat sich gelohnt: Nachdem sie mit ihrem Regiedebüt „Mein 20. Jahrhundert“ schon 1989 die Goldene Kamera in Cannes gewinnen konnte, setzt die inzwischen 61-jährige Ungarin mit ihrem langerwarteten Comeback nun sogar noch einen drauf – bei der Berlinale gab es für „Körper und Seele“ im Februar 2017 den Goldenen Bären für den Besten Film.
Der extrem eigenwillige Schlachthaus-Liebesfilm, in dem der Teamleiter Endre (Géza Morcsányi) und die Qualitäts-Kontrolleurin Mária (Alexandra Borbély) zwar jede Nacht dasselbe Träumen, sich im wahren Leben aber nur sehr behutsam annähern, galt ab seiner Premiere am zweiten Tag des Festivals sofort als aussichtsreicher Kandidat auf den Goldenen Bären. Für die beobachtenden Journalisten war der Sieg also gar keine solch große Überraschung, aber für Enyedi darum umso mehr – sie hatte nämlich nicht einmal damit gerechnet, überhaupt zur Berlinale eingeladen zu werden:
Es ist ein kleiner Film, in jeder Hinsicht. Als wir ihn fertig hatten, sagte ich zu meinen Kollegen, dass sie ihn bloß nicht bei wichtigen Festivals einreichen sollen!
Mit den gemeinsamen Träumen kommt auch ein Schuss magischer Realismus in den Film – und da könnte man leicht auf die Idee kommen, es gehe darin um etwas Spirituelles. Aber wie sie uns erzählt, geht es Enyedi im Kern viel eher um ganz konkrete Hindernisse, die jeder von uns kennt und vor allem die Kommunikation betreffen – die kommt nämlich nach Ansicht der Regisseurin gerade im digitalisieren Alltag viel zu kurz, obwohl wir doch alle, wie sie betont, viel glücklicher sein könnten, wenn wir in sozialen Situationen doch nur mehr riskieren und offener mit unseren Gefühlen umgehen würden.
Welcher Salzstreuer ist der richtige?
Enyedi möchte ihr Publikum vor allem emotional erreichen, weshalb beim Dreh großer Wert selbst auf winzige Details gelegt wurde, um so auf subtile Weise etwas über die Protagonisten preiszugeben – so diskutierte die Crew am Set etwa ausgiebig darüber, aus welchem Material die Salz- und Pfefferstreuer sein sollten, mit denen die autistische Mária in einer humorvollen Szene abends in ihrer Wohnung noch einmal die Gespräche des Tages durchgeht, um sich zu überlegen, wie sie vielleicht „besser“ bzw. „normaler“ hätte reagieren sollen.
Getragen wird die manchmal zärtlich-surreale, manchmal knallhart-reale Romanze auch von zwei herausragenden Hauptdarstellern – nach dem Schauen des Films fällt es schwer zu glauben, dass Géza Morcsányi 20 Jahre lang einen Verlag führte, bevor er für „Körper und Seele“ nun erstmals vor der Kamera stand. Alexandra Borbély ist hingegen in ihrer Heimat zumindest als Theaterschauspielerin sehr bekannt – und trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis Enyedi auf die Idee kam, sie als Mária zu besetzen. Wie uns die Regisseurin verrät, sei Borbély privat ein derart extrovertierter Mensch, dass sie zunächst nicht erkennt habe, was sie mit ihrer autistischen Rolle gemein habe. Trotzdem sei es Borbély dann eindrucksvoll gelungen, aus sich selbst heraus eine ihr so völlig fremde Figur vor der Kamera zu entwickeln.
Ein neuer Anfang
Enyedi erzählt uns sehr offen, dass sie selbst der fiktiven Mária ziemlich ähnlich ist, sich zum Beispiel auf Partys mit einem Glas Champagner in der Hand nicht besonders wohl fühlt. Vor der Arbeit an „Körper und Geist“ inszenierte Enyedi zuletzt für HBO Europe Episoden der ungarischen Variante von „In Treatment“ – aber nun, nach dem Gewinn des Goldenen Bären, steckt sie mehr denn je voller Tatendrang. Den Unterschied zu früheren Phasen ihrer Karriere erklärt sie uns dabei so:
Wenn man jung ist, möchte man die Welt verändern. Heute ist es mir wichtiger, etwas Organisches zu schaffen.
In den vergangenen Jahren habe sie gelernt, dass eine gewisse Gelassenheit förderlicher ist, als sich ganz der Verzweiflung über nicht verwirklichte Drehbücher hinzugeben – übrigens ein weitere Parallele zu ihren Figuren, denen es nach langer Anlaufphase auch irgendwie noch gelingt, wieder nach vorne zu schauen. Aber nicht nur der Regisseurin selbst, sondern auch dem ungarischen Kino an sich stehen nach dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film für „Son Of Saul“ und dem Goldenen Bären für „Körper und Seele“ womöglich goldene Zeiten bevor.