Indiana Jones im Reich der Insekten
Das Leben der Insekten ist ja vermeintlich schlicht: Schlüpfen, Summen, Surren, Futtern, Paaren, Schluss. Dabei gibt es da noch so viel mehr zu entdecken! Etwa die Eifersucht eines kleinen Käfers auf den baldigen Nachwuchs seiner Eltern. Das turbulente Wettrennen zwischen Marienkäfer und Schmeißfliegen. Die aufregende Reise einer Spinne auf einem verlassenen rosa Luftballon… All das und noch mehr gibt es in der kleinen, aber sehr feinen französische Animationsreihe „Minuscule“ mit ihren bezaubernden Miniaturen (mehr als 70 Stück, die bei uns zu Hause oft als filmisches Betthupferl dienen): Die stets nur wenige Minuten langen Kurzfilme vermischen reale Kameraaufnahmen von Wiesen, Wäldern und anderen Orten mit animierten Insekten. Irgendwie lebensnah wirken diese und doch märchenhaft, meist mit großen Augen und milde an menschliche Gesichter erinnernden Zügen.
Für die Kinofilm-Version „Die Winzlinge – Operation Zuckerdose“ nehmen die Macher Hélène Giraud und Thomas Szabo nun diese Elemente, sammeln einige der bekannten Protagonisten ein und stürmen mit ihnen in gänzlich unbekannte Gefilde: Denn statt kurzer Momentaufnahmen liefert der Film eine durchgehende Story – ganz ohne Worte, aber in jedem Moment verständlich, voll Action und Bewegung. Los geht es beim Picknick eines jungen Menschenpaares. Sie ist sichtbar schwanger, dann hält sie sich den Bauch und hat es auf einmal sehr eilig. Auf der Wiese bleibt ein Teil des Picknicks zurück, und schon bald räumen die unterschiedlichsten Tiere ab, was noch an Essbarem zu holen ist. Ein Trupp schwarzer Waldameisen interessiert sich besonders für den Metallkasten voller Zuckerwürfel, nimmt beim Transport des Kästchens aber - eher versehentlich – auch noch einen kleinen Marienkäfer erst mit und dann unter seine Fittiche. Allerdings sind auch räuberische rote Ameisen scharf auf den nahrhaften Schatz und unternehmen bald alles, um ihn ganz für sich zu haben…
Es folgt eine Reise zuerst durchs Gras, dann in einen Bach und über einen Wasserfall hinab, schließlich hinein in die vermeintliche Sicherheit des Ameisenbaus. Dabei wechselt „Die Winzlinge“ sein Genre von Szene zu Szene: Aus dem eher beschaulichen Naturgeschehen auf der Wiese wird eine Verfolgungsjagd im Wasser nach Art von Indiana Jones – und wenn die roten Ameisen vor dem Ameisenbau ihrer schwarzen Rivalen auftauchen, verdichtet sich das zu einer Szenerie, die irgendwo zwischen traditionellem Kriegsfilm und einer Schlacht à la „Herr der Ringe“ liegt. Da wird allerlei Zivilisationsmüll als Wurfgeschoß in Richtung Ameisenbau geschleudert, das wirkt mitunter schon ein wenig bedrohlich.
Und auch wenn die wilde Natur an sich nicht eben für ihre moralische Feinfühligkeit bekannt ist: Eine solche Einteilung in Gut (Schwarze Ameisen) und Böse (Rote Ameisen) kennt sie in Wahrheit natürlich nicht. In „Die Winzlinge“ werden die Akteure auch ethisch klar eingeordnet. Was der Film dadurch gegenüber der Serie an Leichtigkeit einbüßt, macht er aber locker mit einem Mehr an Spannung wett – ein Actiondrama auf Insektenhöhe, mit reichlich Slapstick, visuellen Gags und albernen Situationen. Das bezauberndste an den „Winzlingen“ ist aber nach wie vor die einzigartige Kombination von realen Naturaufnahmen und im Computer entstandenen Insekten, die zu einer ganz eigenen, zauberhaften Welt verschmelzen.
Rochus Wolff, Jahrgang 1973, ist freier Journalist und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Grundschulalter in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt ist der Kinder- und Jugendfilm; seit Januar 2013 hält er in dem von ihm gegründeten Kinderfilmblog nach dem schönen, guten und wahren Kinderkino Ausschau.