Zauberwelten, die für eine ganze Kindheit reichen
Hinein in die Zauberwelt geht es durch einen dunklen Gang irgendwo im Wald - die Eltern haben nicht weit von hier ein neues Haus gemietet, der Vater wollte eine Abkürzung ausprobieren. Nun ist der Weg mit einem Mal zu Ende. Nur kurz in den Gang hineinschauen wollen die Eltern, ein harmloses Abenteuer, und die kleine Chihiro muss mit. Auf der anderen Seite wartet eine Zauberin, ein Badehaus für Gottheiten aller Größen und Formen, seltsame, fremdartige Gestalten, freundliche und bösartige. Die Eltern sind da längst in Schweine verwandelt und es dauert lange, bis das Mädchen mit ihnen durch den Gang in die reale Welt zurückkehren kann.
Der oscarprämierte Anime-Klassiker „Chihiros Reise ins Zauberland“ von 2001 ist natürlich auch ein bisschen wie eine Reise ins Kino – durch einen dunklen Gang, hinein in eine Welt voller Zauber, und wenn man auf der anderen Seite hinauskommt, darf man sich bitte auf keinen Fall umwenden und einen Blick zurück werfen. Und „Chihiros Reise“ ist sogar nur eines von zahlreichen Meisterwerken des Animationsfilms, die die Welt dem Japaner Hayao Miyazaki und seinem Studio Ghibli zu verdanken haben (im Dezember sind die zehn Langfilme des Regisseurs in der aufwändigen Hayao Miyazaki Collection auf DVD und Blu-ray erschienen). Die Reise in die fremde Welt ist für europäische Kinderaugen (aber auch für Erwachsene) übrigens wirklich fremdartig – einen solchen Reichtum an Kreaturen und Mythen findet man im westlichen Kino schließlich eher selten. Dazu gehört aber auch, dass manche dieser Kreaturen Kindern zunächst Angst einjagen können. Meinen (Grundschul-)Kindern würde ich daher Chihiros Abenteuer noch nicht unvorbereitet zeigen wollen.
Als Miyazaki-Einstieg sind der japanischen Kinderfilm-Klassiker „Mein Nachbar Totoro“ oder das erst wenige Jahre alte Goldfisch-Abenteuer „Ponyo - Das große Abenteuer im Meer“ besser geeignet. Hier pflanzt der Filmemacher seine Mythen in eine ganz und gar moderne Welt: Umweltzerstörung gefährdet das Gleichgewicht der Meere, ein Sturm akut das Leben der Menschen an der Küste. Beiden Filmen ist gemein, dass sie zwar spannend sind, aber unaufgeregt, fast schon beschaulich langsam erzählt werden. Es gibt hier keine Bösewichte, vor denen sich ein Kind fürchten müsste.
Die Filme von Miyazaki verbinden oft Geschichten von Naturgottheiten und Geistern mit einer durchaus modernen Alltagswelt; Magie ist eine fast beiläufige Eigenschaft dieses Universums, manchmal gewürzt mit Elementen des Steampunks wie in „Das wandelnde Schloss“. Andere Filme kommen dann, wie etwa das Schweine-Kriegsabenteuer „Porco Rosso“ oder Miyazakis erklärtermaßen letzter Film „Wie der Wind sich hebt“, der Realität in ihren historischen Bezügen fast schon schmerzhaft nahe. Gerade für empfindsame Kinder empfiehlt sich bei Miyazakis Filmen deshalb mehr noch als bei anderen, dass man sie sich vorher einmal in Ruhe selbst anschaut – und sie sind so gut, so wunderbar, dass man sie anschließend gerne noch einmal mit den Kindern zusammen ansieht: Zauberwelten voller unerwarteter Momente, keine weichgespülte Konsensunterhaltung.
Rochus Wolff, Jahrgang 1973, ist freier Journalist und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Grundschulalter in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt ist der Kinder- und Jugendfilm; seit Januar 2013 hält er in dem von ihm gegründeten Kinderfilmblog nach dem schönen, guten und wahren Kinderkino Ausschau.