1953 ließ der japanische Regiegroßmeister Yasujiro Ozu („End of Summer“) in dem Klassiker „Die Reise nach Tokyo“ ein alterndes Ehepaar nach Tokio aufbrechen, um ihren erwachsenen Kindern einen Besuch abzustatten. Dabei machte er den Generationenkonflikt und den Wandel des japanischen Familienbildes für sein Publikum erfahrbar. Ganz im Geiste Ozus beobachtet nun der Regisseur Hirokazu Koreeda in seinem ruhigen, meisterhaften Drama „Still Walking“ mit größter Zurückhaltung einen Tag im Leben einer Familie, die sich zusammengefunden hat, um dem frühen Tod eines Familienmitgliedes zu gedenken. Dabei werden hinter den vordergründigen Alltagshandlungen die seelischen Zustände der Kinder und Eltern durchleuchtet, der Umgang mit dem Tode thematisiert und das schwierige Verhältnis zwischen den Generationen verdeutlicht. Koreeda zeigt das Konstrukt „Familie“ als ruhenden Pool des Vertrauens und zugleich als Wurzel tiefgreifender seelischer Konflikte.
Wie jedes Jahr im Hochsommer versammelt sich die Familie Yokoyama zum Gedenken an den verstorbenen Sohn und Bruder Junpei im Haus der alternden Eltern. Der pensionierte Kyohei (Yoshio Harada) hat den Tod seines geliebten ältesten Sohnes, den er als designierten Erben seiner kleinen Klinik ansah, nach 15 Jahren immer noch nicht verwunden, und auch seine Frau Toshiko (Kirin Kiki) kann dem Jungen, für dessen Rettung ihr Sohn sein Leben ließ, auch nach so langer Zeit noch nicht verzeihen. Der zweitgeborene Sohn Ryota (Shohei Tanaka) reist eher widerwillig mit seiner neuen Gattin Yukari (Yui Natsukawa) und deren Sohn aus erster Ehe an, hat er doch ein gespaltenes Verhältnis zu seinen Eltern. Bereits im Elternhaus eingetroffen ist Ryotas Schwester Chinami Kataoka (You) mit ihrer Familie. Im Verlauf des Sommertages sollen Neuigkeiten ausgetauscht und in Familienerinnerungen geschwelgt werden – dabei kommen bereits vergrabene Gefühle wieder hervor…
„In den vergangenen fünf oder sechs Jahren habe ich beide Elternteile verloren. Als undankbarer ältester Sohn, der seine langen Absenzen von zu Hause mit seinem Eingespanntsein im Beruf rechtfertigte, empfinde ich heute Bedauern: ‚Wenn ich mich nur mehr um sie gekümmert hätte... Warum habe ich denn dies oder das gesagt...?‘ ‚Still Walking‘ ist motiviert durch diese Erfahrung der Reue, die wohl viele früher oder später erleben.“ - Regisseur Hirokazu Koreeda
Nach seinem erschütternden Sozialdrama „Nobody Knows“ machte Regisseur Hirokazu Koreeda mit „Hana“ zunächst einen augenzwinkernden Abstecher ins alte Edo, um sich nun einem intimen Drama zu widmen, in dem er unaufgeregt und präzise die Dynamiken innerhalb einer ganz normalen zeitgenössischen Familie illustriert. Die aus dem Leben gegriffene Geschichte spielt sich während eines einzigen Sommertages ab und zeigt liebevoll beobachtete Bilder einer realistisch erscheinenden Familienzusammenkunft, bei der gekocht und gegessen wird, ein paar Sticheleien und Zwistigkeiten ausgetauscht und geliebte wie verhasste Erinnerungen wieder ins Gedächtnis geholt werden. Es passiert nichts Folgenschweres während des Familientreffens, doch gerade wegen der genauen Beobachtungen und der feinfühligen Darstellung der einzelnen Mitglieder des Clans fühlt man sich schon bald wie ein still beobachtendes Mitglied der Yokoyamas.
Hauptdarsteller Hiroshi Abe („Ode an die Freude“) streicht die widersprüchlichen Gefühle Ryotas gegenüber seinen Eltern in seiner zurückgenommenen Darstellung großartig heraus. Seiner Mimik ist bereits zu Beginn zu entnehmen, wie ungern Ryota in das Haus seiner Eltern zurückkehrt, das erfüllt ist von Erinnerungen an seinen großen Bruder, in dessen Schatten er stets stand und immer noch steht. Er nimmt weitestgehend eine Abwehrhaltung ein und reißt sich merklich zusammen, wenn sein Vater ihn mit Verachtung oder Desinteresse straft und seine Mutter den verstorbenen Bruder in den Himmel lobt. Doch auch wenn insbesondere die Kaltherzigkeit des Vaters ihm schwer zu schaffen macht, ist seinen Blicken auch die Sorge um seine langsam gebrechlich werdenden Eltern abzulesen. Auch das alternde Elternpaar, das Ryota immer wieder all seine Fehler vorhält und nun an ihm rummäkelt, da er eine verwitwete Frau mit Kind geehelicht hat, wird von Yoshio Harada und Kiki Kirin vortrefflich verkörpert. Harada gibt mit stoischer Miene sehr überzeugend den in seinen Denkmustern festgefahrenen Patriarchen und Kirin begeistert in ihrer Rolle als resolute Mutter.
Sicherlich muss man sich auf den unaufgeregt-realistischen Erzählstil, der auf dramatische Zuspitzungen gänzlich verzichtet, einlassen können, um die wunderbare Natürlichkeit des Sommertages mit den alltäglichen Fragmenten der familiären Zusammenkunft genießen zu können. Doch gerade die große Ruhe, die sich in den lichtdurchfluteten Bildern entfaltet, ermöglicht es dem Betrachter, sich in die Situationen der einzelnen Mitglieder des Yokoyama-Clans einzufühlen und schafft so die Basis für die Fokussierung auf Nuancen. Dank dieser subtilen Inszenierung vermag es der Regisseur, ungemein viel über die Familie Yokoyama und die Befindlichkeit ihrer einzelnen Mitglieder mitzuteilen, während vordergründig nur das Essen vorbereitet, Smalltalk bei Tisch geführt oder familiäre Anekdoten zum Besten gegeben werden.
In „Still Walking“ werden die feinen Bruchlinien in den Beziehungen herausgearbeitet. Dabei verdeutlicht Horeeda ohne jegliche falsche Sentimentalität, dass der brodelnde Groll und das unausgesprochene Bedauern mit der Zeit an Kraft und Bedeutung verlieren, und dass alle am Tisch sitzenden Familienmitglieder - trotz ihrer Fehler und ihrer Engstirnigkeit - letztlich fehlbare und liebenswerte Menschen sind. In den hellen Bildkompositionen und der sommerlich-friedlichen Atmosphäre kommt es nie zum dramatischen Gefühlsausbruch, vielmehr versucht die Familie sich trotz aller Streitigkeiten und vergrabenen Gedankengängen zu arrangieren und den jeweils anderen in seinen Eigenheiten zu akzeptieren.
„Es gibt keine Taifune in ‚Still Walking‘, es wird nur das Vorher und Nachher eines dramatischen Moments betrachtet. Mit anderen Worten habe ich mich auf die Ankündigung und den Nachhall, auf die Vorahnungen und den Nachklang von Ereignissen fokussiert. Ich denke, dass genau dort die Essenz des Lebens gefunden werden kann.“ - Regisseur Hirokazu Koreeda
Fazit: „Still Walking“ ist ein Kleinod der Natürlichkeit und schlichten Eleganz, das liebevoll und zugleich präzise die zwischenmenschlichen Vorgänge innerhalb einer Familie analysiert und dabei ein Gefühl der Vertrautheit schafft, das den Zuschauer zum still-beobachtenden Mitglied des Familienbundes werden lässt. Regisseur Horeeda gelingt ein bestechend-authentischer Blick auf das Leben, der in seiner Ruhe und Subtilität berührt.