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    Vier Minuten zur Selbstfindung

    Allociné traf Chris Kraus im Rahmen seiner Promo-Tour zum Frankreichstart von "Vier Minuten" in Paris.

    Allociné: Sie haben von 1991-1998 an der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Regie studiert. Daneben und danach waren sie vor allem als Drehbuchautor für Film und Fernsehen und als dramaturgischer Berater für Regisseure tätig. Erst 2002 hatten Sie mit ihr Regiedebüt. Warum haben Sie sich nicht schon früher dazu entschlossen, selbst Regie zu führen?

    : Das ist eine lange Geschichte. Um sie kurz zu machen: Ich habe gar keine Möglichkeit gehabt. Als ich angefangen habe zu studieren war es anders. Man hat Regie gelernt und danach ist man meist Taxi gefahren. Und ich hatte dann in den 90er Jahren die Chance mich als Autor ausbilden zu lassen. Da ich Kinder hatte habe ich das auch gemacht. Ich komme vom Schreiben und ich liebe das Schreiben, es ist meine Heimat. Aber ich habe auch so viele schlechte Erfahrungen gemacht da ich an schlechte Regisseure geraten bin. Darum habe ich beschlossen die Sachen selber zu drehen. Das war sehr spät, zu einer Zeit als ich mir als Autor in Deutschland schon einen Namen gemacht habe und es deshalb sehr leicht war zu sagen: OK, ihr habt das Buch praktisch umsonst also müsst ihr mich als Regisseur akzeptieren. So konnte ich quasi auf den letzten Drücker die Regiekurve nehmen. Ich bin glücklich damit, man hat die Dinge einfach stärker in der Hand. Man ist als Autor ja fast so fremdbestimmt wie als Schauspieler. Man weiß überhaupt nicht was aus dem was man macht später mal wird. Beim Drehbuch kommen noch viele Menschen dazu die in die Suppe mitrein spucken. Das hat mir nicht gefallen.

    Nun war die Produktion von nicht gerade einfach - ich denke da zum Beispiel an die Probleme bezüglich der Finanzierung. Insgesamt haben sie mehr als acht Jahre an dem Film gearbeitet...

    Das ist die Summer wahnsinnig vieler Probleme: es gab andere Schauspielerinnen, Prozesse, Finanzierungsprobleme... Es war einfach eine ganz lange Odyssee. Es ist ein großes Wunder dass wir es am Ende doch noch geschafft haben. Mit nur der Hälfte des Geldes das eigentlich von Nöten gewesen wäre.

    Denken Sie dass der Film anders geworden wäre wenn sie mehr Geld zur Verfügung gehabt hätten?

    Vielleicht schlechter! Letztlich war es gar nicht so schlecht dass wir sehr wenig Geld hatten. Niemand wurde wirklich bezahlt. Erstaunlicherweise gab es dadurch einen Effekt der das Team mehr zusammen geschweißt hat. Jeder hat gleich wenig verdient, darum gab es keinen Neid und keine Missgunst. Dies hat natürlich sehr geholfen da es bei so einem Film ganz wichtig ist dass die Leidenschaft der Machenden noch einmal eine Dimension auf die eigentliche Geschichte draufsetzt. Wer weiß ob das passiert wäre wenn wir das Geld gehabt hätten. Der Film ist nun so wie wir ihn machen wollten.

    Im Film trifft man auf viele Problematiken: Kriminelle Jugendliche, Gewalt, Vergewaltigung, Schuld- und Schuldlosigkeit, Rache, Nationalsozialismus, Homosexualität, Freund- und Feindschaft zwischen Frauen, etc... welche Problematiken standen für Sie im Vordergrund?

    Es ist ein einfacher Film über die Frage wie man zu sich selbst findet. Diese ganzen Themen sind Themen die man aus dem Film extrahiert, aber eigentlich kommen sie aus den Charakteren. Dadurch dass ich Charaktere wähle die auf eine sehr schwierige Weise mit dem Schicksal beladen sind kommen diese Themen rein. Ich habe einen Film gemacht über Menschen für die es wahnsinnig schwer ist sich selbst zu erkennen und sich selbst zu finden. Das, finde ich, ist sowieso das Schwierigste im Leben. Dann gibt es einen Moment der Schönheit, auch wenn er nur kurz dauert. Das ist das Wichtigste im ganzen Film. Ich habe sehr komplizierte Charaktere gewählt und deshalb gibt es auch eine Ansammlung von komplizierten Themen die aber tatsächlich alle nicht zu Ende erzählt werden. Das heißt, es wird alles nur angerissen. Das Einzige was zu Ende erzählt wird ist diese Selbstfindung und deshalb ist sie das Entscheidende.

    Das dominierende Element des Films ist nun die Musik. Auch der Titel steht im Zusammenhang mit der Musik...

    Ich finde den Titel ganz gut. Es gab eine lange Suche, ursprünglich hieß der Film ja anders. Ich finde ihn gut da es im Film einfach auch darum geht, die Wichtigkeit eines Moments zu zeigen. Das vergisst man oft weil man das Gefühl hat nach linearen Zielen zu leben. Diese Zielorientiertheit finde ich falsch. Deshalb habe ich auch einen Zeitraum gewählt der sehr kurz ist und trotzdem alles bündelt. Weil die Suche dieses Mädchens nach sich selbst findet in vier Minuten statt. In diesen vier Minuten findet sie sich. Ich finde den Titel sehr gut da er etwas Kurzes bezeichnet, aber auch etwas Entscheidendes.

    Wie wichtig war Ihnen Realismus? Der Großteil des Films spielt in einem Frauengefängnis...

    Es ist kein dokumentarischer Film. Aber ich habe sehr realistisch mit den Schauspielern gearbeitet. Was den Knast anbelangt habe ich sehr viel recherchiert und manchmal Dinge wieder fallen gelassen, obwohl ich wusste dass es total falsch erzählt wird. Man kann im Knast zum Beispiel nicht Rauchen. Es gibt so genannte Fehler die man bewusst macht weil man eine bestimmte Haltung einer Figur erzählen will. Darum lasse ich Jenny rauchen.

    Ich habe gelesen, dass Sie zu der Geschichte durch ein Photo in einer Zeitung angeregt worden sind...

    Ich habe ein Archiv mit sehr vielen Zeitungsartikel. Ich suche in Zeitungsartikel immer nach Reportagen über Menschen die mich interessieren. Im Zuge dieser Recherchen bin ich auf einen Artikel über eine Frau gestoßen die seit fünfzig Jahren im Knast gearbeitet hatte. Es war ein Foto von ihr dabei das ich sehr erstaunlich fand da sie sehr maskulin aussah, jedoch sehr schöne weibliche Hände hatte. Das Bild eines Klaviers im Knast hat man auch nicht oft gesehen. Diese vielen Kontraste haben mich so fasziniert dass ich um die Figur herum eine Geschichte erfunden habe. Ich überlegte: was hat diese Frau im Knast gehalten? Und da ist mir nur eine Liebesgeschichte eingefallen. Das Verrückte an der Geschichte ist, deshalb hat die Produktion auch so lange gedauert denn der Film ist schon vor acht Jahren kurz vor Drehbeginn gestanden, dass diese Frau, die damals noch gelebt hat, herausbekam dass wir drehen wollten. Sie wollte dies gerichtlich verhindern lassen. Sie sagte dass ich ihr Leben ausspioniert hätte da sie tatsächlich, viele Jahrzehnte zuvor, eine Liebesbeziehung zu einer Gefangenen hatte. Die Gefangene war auch ihre Schülerin. Das war sehr interessant da ich dies ja alles gar nicht wusste und die Geschichten sehr ähnlich waren.

    Anfangs war geplant, in nur Musik von Mozart spielen zu lassen. Warum haben Sie dies geändert? Finden sie, dass klassische Musik "verstaubt" sei?

    Wenn Musik so wie hier in einem Endlosband gespielt wird, dann finde ich sie nicht verstaubt, sondern tot. Aber ich inszeniere gerade eine Oper und da merke ich natürlich dass die Musik überhaupt nicht tot ist. Die Frage ist die Art wie man mit ihr umgeht. Und klassische Musik kann eine unheimliche Kraft haben. Ich hoffe dass wir die auch teilweise eingefangen haben in dem Film. Das Musikkonzept hat zwei verschiedene Musikarten gegeneinander gestellt, aber nicht weil ich damit werten wollte sondern weil die Charaktere damit verbunden sind.

    Im Film schafft es Jenny mithilfe der Musik ihre Aggressionen unter Kontrolle zu bringen. Musik hat auch das Leben von Traude bestimmt und ihr Kraft gegeben. Denken Sie dass Musik helfen kann schwierige Situationen im Leben zu meistern?

    Das ist ja die Frage des Films. Ich habe die Musik allerdings wirklich nur als Variante genommen. Ich hätte den Film auch übers Zeichnen oder Schreiben oder Tanzen machen können. Die Musik war einfach eine sehr filmische Form mit der man leicht kommunizieren kann. Es geht in dem Film gar nicht so sehr um Musik sondern eher um Kunst. Also um etwas sehr Abstraktes das die Menschen verändert. In meinem Fall, darum habe ich den Film auch meiner Lehrerin gewidmet, hat es mein Leben sehr verändert dass ich diese Person getroffen habe. Die Beziehung zwischen einem Lehrer und seinem Schüler ist immer eine sehr erotische, auch wenn es abstrakt ist. Wenn man jemanden bewundert dann nimmt man halt auch das an was der Mann oder diese Frau bewundert. Insofern ist es auch logisch für mich dass die Geschichte zwischen diesen beiden Frauen erotisiert ist. Das erzähle ich aber nicht. Man ahnt nur, so wie auch viele andere Dinge die man nicht erzählt bekommt. Ob es wirklich was ändern kann? Man hofft es halt. Weil es auch etwas Schönes ist am Menschen, weil es weder mit dem Geschlechtstrieb noch mit dem Selbsterhaltungstrieb zu tun hat. Es ist etwas sehr Abstraktes und das macht Menschen schön.

    Das Interview wurde von Barbara Fuchs am 4. Dezember 2007 in Paris geführt

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