Joaquin Phoenix zählt wohl zu den wandelbarsten Größen Hollywoods. Versessen und abtrünnig in „Joker”, singend in „Walk The Line”, tyrannisch in der Rolle des Kaisers Commodus in „Gladiator” und natürlich ganz aktuell als der machtbesessene „Napoleon”. Dass er jedoch auch anders kann, das zeigt er eindrucksvoll in „Her”: Hier trägt er seine weiche, wehmütige und verletzliche Seite als Theodore zur Schau, und das ist nicht minder sehenswert.
Anschauen sollte man sich Spike Jonzes („Being John Malkovich”, „Adaption”) Film aber nicht nur seinetwegen, sondern vor allem wegen Scarlett Johansson – genau genommen wegen ihrer Stimme. Was die „Black Widow”- und „Lucy”-Darstellerin hier in ihre körperlose Performance reinsteckt, ist einfach bemerkenswert. Zu Recht hätte sie damals den Golden Globe bekommen sollen, wäre die Nominierung nicht vorher abgelehnt worden, da sie kein einziges Mal im Film zu sehen ist. Streamen könnt ihr „Her” – am besten im Original! – derzeit auf Netflix.
K.I. gegen die Einsamkeit
Theodore Twombly (Joaquin Phoenix) verdient sein Geld als Ghostwriter für Briefe fremder Menschen, die ihre Emotionen selbst nicht gut in Worte packen können. Doch auch er selbst ist nicht glücklich: Seit der Trennung von seiner Frau Catherine (Rooney Mara) fühlt er sich einsam und verbringt seine Abende alleine mit Computerspielen. Er unternimmt etwas dagegen, indem er sich ein neu entwickeltes Betriebssystem kauft, welches mit künstlicher Intelligenz ausgestattet ist.
„Samantha” (Scarlett Johansson) begleitet ihn nun auf Schritt und Tritt: Sie informiert ihn über neue E-Mails, macht Reservierungen in Restaurants und entpuppt sich darüber hinaus als äußerst charmante und schlagfertige Gesprächspartnerin. Beeindruckt von ihrem Blick auf die Welt, beginnt Theodore allmählich, Gefühle für das System zu entwickeln...
Was vor 10 Jahren, als „Her” in die Kinos kam, noch nahe Zukunftsmusik war, ist momentan aktueller denn je: Während ChatGPT immer klüger wird, bieten K.I.-Apps inzwischen auch die Möglichkeit für virtuelle Freundschaften oder gar Partnerschaften.
In Science-Fiction-Filmen ist das Thema natürlich nicht neu – schon in Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum”, dem Science-Fiction-Klassiker schlechthin, gerät der Supercomputer HAL 9000, der ebenfalls mit artifizieller Intelligenz ausgestattet ist, in einen Konflikt mit sich selbst – was so einige Probleme und Gefahren für die menschliche Besatzung der Discovery mit sich bringt.
Der Mensch in seiner Unzulänglichkeit
Was hinter der Behandlung des Themas steht, ist freilich die Angst des Menschen selbst: Die Angst davor, etwas zu erschaffen, das ihn hinter sich lässt. Tatsächlich scheint die Bedrohung eines Systems, das „lernt zu lernen” derzeit realer denn je, zumindest für Schreibende und Kreative. Im Falle von „Her” lernt das System aber noch etwas ganz anderes: Zu fühlen nämlich.
So sieht sich Theodore zurückgeworfen auf das Allermenschlichste, seine Gefühle – und das, während seine Ex-Frau ihm vorwirft, keinen Zugriff auf selbige zu haben. So entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Samantha als Maschine nicht nur den Menschen auf sein Fühlen verweist, sondern auch selbst in ihrem Fühlen stellenweise menschlicher wirkt als der Mensch selbst.
Der große Verdienst gilt natürlich Scarlett Johansson, die es schafft, allein mit ihrer Stimme eine körperlose Persönlichkeit zu füllen. Im Zusammenspiel von Johansson und Phoenix, der den gesamten Film über mit Knopf im Ohr gegen das Unsichtbare spielt, entsteht etwas Greifbares und nicht zuletzt ein Liebesfilm, der in seiner Art absolut einzigartig ist.
Auf der Blu-ray von „Her“* findet ihr im Übrigen noch einige spannende Features im Bonusmaterial: „Liebe im modernen Zeitalter” zeigt Interviews mit einigen Autoren, die sich zu Liebe im Zusammenhang mit IT äußern und in „Das titellose Rick Howard Projekt“ bekommt ihr fragmentarische Einblicke hinter die Kulissen des Drehs.
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