Er wurde vom Farmerskind zum erfolgreichen Hollywood-Produzenten und lebte somit den amerikanischen Traum. Obendrein baute Walt Disney seinen Namen zur weltweit bekannten Marke aus – worauf er in seinen öffentlichen Auftritten auch ein gewisses Maß Stolz zeigte. Allerdings holten selbst den Oscar-Rekordgewinner zuweilen Selbstzweifel ein.
Ein Film brachte Disney besonders ins Schleudern: Das Justizfilm-Meisterwerk „Wer die Nachtigall stört“, das regelmäßig zu den besten Filmen der Hollywood-Geschichte gezählt wird und das es seit dieser Woche neu in brillantem 4K gibt:
Bereits Ende 2022 erhielt der Film mit umfangreichem Bonusmaterial versehene Neuauflagen auf Blu-ray* und DVD*. Im selben Zuge kam eine streng limitierte 4K-Edition heraus, die allerdings bei einigen Onlineshops, darunter Amazon, rasch ausverkauft war. Die nun veröffentlichte Neuauflage ist daher die preisgünstigere (sozusagen bessere) Lösung. Zudem ist der umjubelte Filmklassiker unter anderem via Amazon Prime Video* als VOD verfügbar.
"Wer die Nachtigall stört": Ein Meisterwerk über Unschuld und Unrecht
Eine Kleinstadt in Alabama zur Zeit der Großen Depression: Jean Louise Finch (Mary Badham) fühlt sich nicht wie andere Mädchen. Sie trägt Jungskleidung, rauft sich und wird lieber „Scout“ genannt. Mit ihrem älteren Bruder Jem (Philipp Alford) hat sie zwar manchmal Ärger, doch eigentlich haben sie sich lieb – und sehen zu ihrem verwitweten Vater auf, den Anwalt Atticus Finch (Gregory Peck). Auch mit der Haushälterin Calpurnia (Estelle Evans) kommen sie gut zurecht.
Doch als ihr Vater den Farmarbeiter Tom Robinson (Brock Peters) vor Gericht verteidigt, müssen die Kinder erkennen, dass die Welt nicht so simpel ist, wie sie annahmen. Denn Tom Robinson wird aufgrund seiner Hautfarbe Opfer von Anfeindungen – und so ergeht es nicht nur ihm, sondern auch Calpurnia und vielen weiteren Menschen...
Basierend auf dem gleichnamigen Roman der Pulitzer-Preisträgerin Harper Lee verschränkt „Wer die Nachtigall stört“ eine Coming-of-Age-Erzählung darüber, wie Scout aus ihrer kindlichen Naivität herauswächst, mit einer Justizgeschichte, die erschreckenderweise nicht an Aktualität eingebüßt hat.
Zu ihrem Entstehungszeitpunkt in den frühen 1960er-Jahren war die von Robert Mulligan inszenierte und Horton Foote verfasste Romanadaption eine mittelgroße Revolution, da sich große Hollywood-Stoffe zuvor selten derart konkret mit dem grassierenden Rassismus befassten. Aber selbst Jahrzehnte später ist das Drama aufwühlend und berührend.
Konsequenterweise hat es in der FILMSTARTS-Kritik von Autor Ulrich Behrens wohlverdiente 5 Sterne erhalten. Zudem wählte das American Film Institute Atticus Finch zum größten Helden der US-Filmgeschichte und „Wer die Nachtigall stört“ zum besten US-Justizfilm aller Zeiten.
Wie die Nachtigall Walt Disney kriseln ließ
Üblicherweise hätte man Walt Disney wohl nicht im Verdacht, Zweifel an sich oder seinem Schaffen zu hegen. Die von ihm mitgegründeten Disney-Studios wuchsen innerhalb kurzer Zeit zur global zelebrierten Marke. Und Anekdoten über Walt Disney drehen sich üblicherweise darum, dass ihm Leute (wie sein die Finanzen überwachender Bruder Roy) etwas ausreden wollten – und er es dann dennoch durchgezogen hat. Von „Nein, niemand will abendfüllende Trickfilme sehen“ bis hin zu „Warum solltest du deinen eigenen Park bauen?“
Als Freund solcher Größen wie Charlie Chaplin, Alfred Hitchcock oder Überproduzent Samuel Goldwyn (das „G“ in „MGM“) ließ sich Walt Disney auch zweifelsohne als integraler Teil des Hollywood-Gefüges bezeichnen. Trotzdem gibt es eine Anekdote des Selbstzweifels, die aufzeigt, dass sich auch der Rekordhalter für die meisten Oscar-Gewinne (26 an der Zahl) zuweilen als jemand sah, der nicht dazugehört, sondern in einer separaten Ecke verharrt.
Wie Journalist Neal Gabler in seiner Walt-Disney-Biografie erzählt, sah er sich mit seiner Familie „Wer die Nachtigall stört“ in einer Privatvorführung an. Er war vom antirassistischen Drama gerührt und von der Umsetzung des Stoffes enorm beeindruckt. Walt Disneys positiver Eindruck führte aber auch zu Neid auf die Verantwortlichen hinter dem Film und Ärger über sein eigenes Image. Er habe aufgestöhnt: „Das ist die Art Film, die ich gerne machen möchte – aber ich kann es nicht.“
„Ich kann es nicht“ habe er nicht als Äußerung der Bescheidenheit intendiert, sondern als Frustration darüber, dass das Publikum ihn nicht als vollwertigen Realfilmproduzent sehen würde, sondern in eine Familienfilm-Ecke packe. Den Nacherzählungen seiner Familie zufolge habe er beklagt, Leute würden niemals einen von ihm produzierten Film im Stile von „Wer die Nachtigall stört“ akzeptieren. Laut Disneys Schwiegersohn Ron Miller sei diese Verärgerung nicht mehr vollauf verflogen:
In seinen letzten Lebensjahren sei Walt Disneys Ärger über die Publikumserwartung, die er vernahm, stetig gewachsen und er habe wiederholt beteuert, gerne auch dramatischere Filme zu verwirklichen. Fast zwanzig Jahre nach Disneys Tod etablierte Miller in seiner damaligen Funktion als CEO des Disney-Imperiums das Label „Touchstone Pictures“. Es sollte endlich ermöglichen, dass der Konzern Filme macht, die sich mit den Erwartungen an Disney beißen.
Zwar wurde die Marke mittlerweile wieder eingemottet, jedoch entstanden unter ihr solche nunmehr bei Disney+ abrufbare Filme wie die Robin-Williams-Dramen „Der Club der toten Dichter“* oder „Good Morning, Vietnam“*. Und selbst unter dem Disney-Label wurden letztendlich Filme wie das Rassismus thematisierende Sportdrama „Gegen jede Regel“* mit Denzel Washington oder „Queen Of Katwe“* über ein Schachgenie aus Uganda veröffentlicht.
Zu behaupten, dass es diese Filme ohne „Wer die Nachtigall stört“ nicht gäbe, würde wohl vor keinem Gericht standhalten. Aber solltet ihr auf der Suche nach Ideen für einen außergewöhnlichen Filmmarathon sein, wäre die Kombination aus einem Film, der Walt Disney an sich zweifeln ließ, und der Antwort seiner Nachfolger gewiss fesselnd.
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