Mit seinem 1998 produzierten Film über die Mechanismen des US-amerikanischen Wahlkampfs traf Regisseur Mike Nichols („Die Reifeprüfung“, 1967; „The Birdcage“, 1996; „What Planet Are You From“, 2000) ins Schwarze. Viele verglichen das Ehepaar Stanton (John Travolta, Emma Thompson) mit den Clintons. Tatsächlich handelt der Film auch von den Idealen und Reformvorstellungen der Generation, die Ende der 60er Jahre in den Vereinigten Staaten auf die Barrikaden ging – z.B. während des berühmt-berüchtigten Kongresses der Demokraten in Chicago (sogar eine Rockgruppe, „Chicago“, zunächst „Chicago Transit Authority“, benannte sich nach diesem Ereignis), bei den Auseinandersetzungen und Straßenschlachten in Los Angeles und San Francisco, als Gouverneur Ronald Reagan mit massiver Polizeigewalt gegen Studierende vorging, usw. Die Clintons gehören zu dieser Generation. Trotzdem hat „Primary Colors“ mehr als nur etwas über die 68er-Generation zu sagen. In dem auf einem zunächst anonym veröffentlichten Roman (geschrieben von Joe Klein, Ex-Newsweek-Journalist) basierenden Film konzentriert sich Nichols auf die Binnenverhältnisse eines Wahlkampfteams und auf die Innen- und Außenansichten eines Kandidaten.
Henry Burton (Adrian Lester), Enkel eines berühmten schwarzen Bürgerrechtlers, stößt zum Wahlkampfteam von Gouverneur Jack Stanton. Burton ist sich nicht sicher, ob er wirklich Stanton unterstützen soll. Zunächst will er beobachten, vor allem Stanton selbst. In einer Schule, in der erwachsene Analphabeten Lesen und Schreiben lernen, erzählt einer der Schüler (Mykelti Williamson) von seinen erniedrigenden Erfahrungen. Stanton dankt ihm für seine Schilderung, erzählt von seinem Onkel Charlie (J. C. Quinn), der als Kriegsteilnehmer ausgezeichnet wurde, aber nach dem Krieg jeden anspruchsvollen Job ablehnte, weil er nicht schreiben und lesen konnte. Stanton erklärt, er habe vollstes Verständnis, halte solche Projekte der Erwachsenenbildung für unabdingbar. Burton ist beeindruckt, glaubt in Stanton einen Kandidaten für die Nominierung der Demokraten zur Präsidentschafswahl gefunden zu haben, bei dem Worte und Taten übereinstimmen. Wenig später trifft er Onkel Charlie. Aufgrund dessen Äußerungen muss er am Wahrheitsgehalt der von Stanton erzählten Geschichte zweifeln. Zudem sieht er Stanton mit der Lehrerin, die ihn durch die Schule geführt hat, aus dem Schlafzimmer kommen.
Tatsächlich erweist sich, dass Stanton ein Mann ist, der einiges zu verbergen hat, was ihm im Wahlkampf schaden könnte – insbesondere seine Beziehungen zu anderen Frauen. Burton schwankt zwischen der Bewunderung für einen Mann, der es in vielem offenbar ehrlich meint, aber dennoch Lüge und Erfindung einsetzt, um sich in der Öffentlichkeit Zustimmung zu verschaffen. Wahlkampfleiter ist der zynische Pragmatiker Richard Jemmons (Billy Bob Thornton), ein mit allen Wassern der Manipulationsmechanismen gewaschener Südstaatler. Zu Stantons Teams gehören zudem Daisy Green (Maura Tierney), eine sich zurückhaltende, im Hintergrund arbeitende junge Frau, die mehr als nur Sympathie für Burton empfindet, und nicht zuletzt Stantons Frau Susan (Emma Thompson), die ihren Mann liebt, und entsetzt ist, als das passiert, wovor alle Angst hatten: Eine Frau aus Stantons Heimat behauptet im Fernsehen, Stanton habe ein Verhältnis mit ihr gehabt. Tonbandaufnahmen von Telefongesprächen beweisen dies angeblich.
Stanton dementiert. Doch er weiß, dass ihm solche Geschichten den Hals brechen können. Daher greift er auf eine alte Freundin zurück, mit der die Stantons mehr als 20 Jahre befreundet sind: Libby Holden (Kathy Bates), die die letzten Jahre in psychiatrischen Kliniken verbracht hat, erfahren in der Bekämpfung von Schmutzkampagnen. Sie findet mit Hilfe von Burton und einem Experten für die Analyse von Tonbandaufnahmen heraus, dass die offenbar aus anderen Gesprächen zusammengeschnitten wurden, also gefälscht sind. Damit nicht genug gerät Stanton in Verdacht, eine minderjährige junge Schwarzen geschwängert zu haben. Ihrem Vater wird Geld angeboten. Außerdem soll eine Blutanalyse Licht in die Angelegenheit bringen. Trotzdem bestehen keine Zweifel daran, dass Stanton nicht nur einmal seine Frau betrogen hat. Und irgend etwas von dem Schmutz, der daraus gezimmert wird, bleibt immer hängen. Als sein schärfster Gegenkandidat wegen einer Herzattacke das Handtuch schmeißen muss, tritt Stanton ein Mann entgegen, der sich eigentlich schon lange aus der Politik zurückgezogen hatte: der Ex-Gouverneur von Florida Fred Picker (Larry Hagman), ein populärer Politiker, der sich 20 Jahre zuvor – wegen privater Probleme – aus der Politik zurückgezogen hatte. Stanton hat mit ihm einen ernsthaften Konkurrenten – und beauftragt Burton und Libby, in Pickers Leben nach verwertbarem Material zu suchen, um Picker seinerseits mit Schmutz zu bewerfen ...
„Primary Colors“ ist in jeder Hinsicht ein beeindruckender Film. Das gelingt Nichols nicht nur wegen der bis in die Nebenrollen ausgezeichneten Besetzung. Die Dialoge, die Streitgespräche, die öffentlichen Auftritte – all das ist en detail ausgefeilt, durchdacht und glaubwürdig. Das Drehbuch von Elaine May ist eines der besten, das ich kenne. In der Originalfassung – eine synchronisierte Fassung sah ich vor einiger Zeit im Fernsehen – kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Es geht um Schmutz, Lügen, Wahlkampftricks, Manipulation, Ausnutzung von Medien, um die Macht der Bilder, die visuelle Kraft, die in Wahlkämpfen so entscheidend geworden zu sein scheint. Es geht aber auch um Figuren, die sich in diesem Kontext durchaus widersprüchlich bewegen. Der enorme Vorteil von „Primary Colors“ ist, dass Nichols selbst nicht den Fehler begeht, mit Schmutz zu werfen: sprich, er zeigt Stanton und alle anderen als Menschen, nicht als Marionetten, im Film gibt es keine absoluten Helden oder Opfer hier, skrupellose Täter dort.
Die Stantons sind ein Paar, das einerseits ihren Idealen nachhängt, immer noch von einer Politik der sozialen Gerechtigkeit überzeugt ist, andererseits sich aber schon lange der verbreiteten Wahlkampftaktik verschrieben hat: dem Betrug, der Lüge und der Manipulation. Susan sagt dies am Schluss des Films zu Libby – die u.a. an den Folgen dieser Diskrepanzen psychisch erkrankte – ganz deutlich. Der zynische Pragmatiker Jemmons hat keine Skrupel, sich in diesem System zu bewegen. Trotzdem ist auch Thorntons Jemmons ein sympathischer Kerl. Kathy Bates ist einfach nur phantastisch. Sie spielt Libby, einerseits hart, auch verbal, die ihre Pappenheimer durch und durch kennt, die exakt weiß, was abläuft, was zu tun ist, wie reagiert werden muss; andererseits ist sie auch aus diesem Grund, aus ihrer Verwicklung in die Politik, eine gebrochene Frau. Emma Thompson und John Travolta, den ich selten derart überzeugend gesehen habe, spielen ein Paar, dass nicht nur in ihren politischen Überzeugungen, sondern auch in ihrer privaten Beziehung in eine Zwickmühle geraten ist: Man sieht sie kaum einmal allein. Sie haben ihr Privatleben voll und ganz auf ihr politisches Leben konzentriert. Dass in ihrer Ehe so einiges nicht stimmt, wird übertüncht. Susan weiß genau, dass ihr Mann Verhältnisse mit anderen Frauen hatte, spricht aber nicht darüber. Erst als in der Kampagne einige dieser Geschichten an den Tag kommen – wahr, halbwahr oder gelogen –, kommt es zum Streit, der wiederum selbst dem Wahlkampf untergeordnet wird.
Überall herrschen mehr oder weniger faule Kompromisse zwischen hehren Zielen und angeblich erforderlichem Pragmatismus. Larry Hagmans Picker – glänzend gespielt – war ausgestiegen aus diesem Geschäft, weil er kokainabhängig war und dies ihn fast ruiniert hatte. Picker repräsentiert a little bit die Art von Politiker, bei denen keine Differenz zwischen wirklicher Überzeugung und öffentlich verkündeter Aussage besteht, die sich weigern, Schmutzkampagnen zu initiieren. Hagman steht also in gewissem Sinn für eine Illusion angesichts des politischen Geschäfts, das heute nicht nur die Verhältnisse in den USA beherrscht. Adrian Lesters Burton, der im Grunde so denkt wie Libby, ist neben ihr die eigentlich tragische Figur des Spektakels, immer wieder hin- und hergerissen zwischen seinen Überzeugungen und dem Dreck des Wahlkampfs. Er spürt, dass Stanton das meiste, was er öffentlich verkündet, ernst meint. Aber er hasst ihn wegen des Zynismus und der Intrige. Die Streitgespräche zwischen Stanton und Susan, zwischen Burton und seiner kompromisslosen Freundin, zwischen Libby und den Stantons, zwischen Burton und Jemmons gehören zu den schönsten und zugleich erschreckendsten Dialogen der Filmgeschichte.
Ähnlich wie „Wag the Dog“ (1997, Regie: Barry Levinson) gehört „Primary Colors“ zu jenen ehrlichen und mit einer guten Portion Sarkasmus versehenen Filmen abseits des Mainstreams (und die dennoch Publikumsgeschmacksrichtungen nutzen), die in den Mittelpunkt eine Geschichte, eine Handlung stellen, davon nicht abweichen, keine unwichtigen Nebengleise befahren, die „dran bleiben“ und deshalb spannend von Anfang bis Schluss bleiben. Nichols verzichtet auf irgendeinen optimistischen oder pessimistischen Schlussakkord. Der Schluss ist offen wie das Thema des Films selbst – unabhängig davon, wer Kandidat wird.