Sich ein Filmgenre herauszupicken, dieses aufzubrechen und sich darin ein gemütliches Plätzchen zu suchen, von dem aus man etwas Neues, Innovatives erschafft – das ist Quentin Tarantinos Berufung. Egal ob „Rerservoir Dogs“, „Kill Bill“ oder sein ultimatives Meisterwerk „Pulp Fiction“: den geläufigen Hollywood-Regularien hat sich das ewige enfant terrible der amerikanischen Filmbranche noch nie unterworfen. Daher brodelte die Gerüchteküche, als der Kultregisseur, der sich einst seine Brötchen hinter der Theke eines Videoladens verdiente, seinen neuen Film „Inglourious Basterds“ (der Schreibfehler ist übrigens beabsichtigt!) nach der Festivalpremiere von Cannes einem Neuschnitt unterzog. Hatte Tarantino da etwa auf Drängen seines Produzenten Harvey Weinstein die fertige Fassung aus marketing-technischen Gründen um einige Minuten gekürzt? Derlei Spekulationen waren jedoch rasch verflogen, als das Multitalent öffentlich bekundete, lediglich ein Feintuning aus eigener Initiative vorgenommen zu haben. Und tatsächlich ist die überarbeitete Kinoversion der „unrühmlichen Mistkerle“ sogar minimal länger als der Cannes-Cut. Der Film selbst, von einigen Juroren etwas primitiv als „jüdische Rachefantasie“ bezeichnet, ist eine hinreißend absurde, verdammt unterhaltsame Farce, in der sich Tarantino die Freiheit nimmt, die historischen Begebenheiten um den Zweiten Weltkrieg nach Belieben umzuschreiben. Brillanter Nonsense als zeremonielle Metapher auf die Macht des Kinos.
Ganz in der Tradition tragikomischer Bühnenstücke entfaltet sich die Handlung des Films in fünf Akten respektive Kapiteln:
Kapitel Eins – Es war einmal... im von Nazis besetzten Frankreich: Ein Auftrag führt den eloquenten, aber sadistischen Nazi-Oberst Hans Landa (Christoph Waltz) zu der Farm des einheimischen Molkereibauern Perrier LaPedite (Denis Menochet), der im Verdacht steht, eine untergetauchte jüdische Familie im Keller seines Hauses zu verstecken. Bei einem Glas Milch und einer Pfeife kommen die beiden ins Gespräch. Landa redet eine Weile sanftmütig auf den Bauern ein, bis er seine Maske schließlich fallen lässt und die unter dem Holzfußboden kauernden Juden ohne mit der Wimper zu zucken von seinen uniformierten SS-Schergen exekutieren lässt. Eine junge Frau namens Shosanna kann dem Mordanschlag knapp entrinnen und flieht in die Felder. Kapitel Zwei – Inglourious Basterds: Eine Spezialeinheit von jüdischstämmigen GIs, die „Basterds“, unter der Führung von Lieutenant Aldo „dem Apachen“ Raine (Brad Pitt) ist hinter die feindlichen Linien vorgedrungen. Raine fordert seine Mannen in einer Ansprache dazu auf, dass jeder von ihnen ihm hundert Naziskalps als Trophäen bringen soll. Ein Teil der deutschen Soldaten wird derweil vom gefürchteten „Bärenjude“ Sgt. Donny Donowitz (Eli Roth) mit dem Baseballschläger zu Klump gehauen. Wer von den Nazis sich kooperativ zeigt, kommt zwar mit dem Leben, nicht aber ohne ein in die Stirn geritztes Hakenkreuz davon.
Kapitel Drei – Deutsche Nacht in Paris: Die Jüdin Shosanna (Mélanie Laurent), mittlerweile eine erwachsene Dame, betreibt inzwischen ein Lichtspielhaus im Zentrum von Paris. Als der deutsche Kriegsheld und Kinostar Fredrick Zoller (Daniel Brühl) den Propagandaminister Joseph Goebbels (Sylvester Groth) dazu überredet, die Uraufführung seines neuen Films „Stolz der Nation“ ausgerechnet in ebenjenes Lichtspielhaus zu verlegen, ist für Shosanna endlich eine Gelegenheit in Sicht, sich an den Mördern ihrer Familie zu rächen. Kapitel Vier – Operation Kino: Das Filmsternchen Bridget von Hammersmark (Diane Kruger) soll den deutschsprachigen Basterds Hugo Stiglitz (Til Schweiger) und Cpl. Wilhelm Wicki (Gedeon Burkhard) dabei helfen, sich in die geplante Premiere zu schmuggeln. Leider kommt alles anders als gedacht, als ein harmloses Kneipenspiel, bei dem jeder Beteiligte den Namen einer berühmten Persönlichkeit erraten muss, der auf einem an ihre Stirn gehafteten Klebezettel steht, in eine tödliche Orgie ausartet. Kapitel Fünf – Die Rache des Riesengesichts: Etliche Rollen von hoch brennbarem 35mm-Nitratfilm, die Shosanna während der Filmvorführung entzünden will, sollen das gesamte Hitler-Regime in ein Häuflein Asche verwandeln. Die Falle ist gespannt...
Etwa zehn Jahre soll das Manuskript zu der irrwitzigen Weltkriegsfabel in Tarantinos Schreibtischschublade verstaubt sein. Da die umfangreiche Erzählung nach Aussage des Regie-Wunderknaben nämlich genügend Stoff für eine zwölfteilige Miniserie bereitgehalten hätte, musste zunächst ein Weg gefunden werden, wie man das Ganze auf einen zweieinhalbstündigen Kinofilm straffen kann. Erst im vergangenen Jahr könnte der Startschuss für die Dreharbeiten des 70 Millionen Dollar teuren Streifens gegeben werden, die unter anderem in den Babelsberger Studios zu Berlin und im sächsischen Görlitz über die Bühne gingen. Auch wenn für den Film inoffiziell Robert Aldrichs „Das dreckige Dutzend“ Pate gestanden haben muss, basiert „Inglourious Basterds“ lose auf Enzo G. Castellaris italienischem Trashreigen „Ein Haufen verwegener Hunde“ (1978), dessen Hauptakteure Cheech Marin und Fred Williamson von Tarantino später für seinen Gangster- und Vampirreißer „From Dusk Till Dawn“ verpflichtet wurden. Folgerichtig saugt „Inglourious Basterds“ den Geist alter Spaghettiwestern in sich auf – von den sarkastischen Onelinern zwischen den von brachialer Soundkullisse erfüllten Feuergefechten bis hin zum pompös-orchestralen Score von Urgestein Ennio Morricone, der bereits für über 500 Filme den Taktstock geschwungen hat.
Mit diebischer Freude lässt Tarantino die Erwartungen der Fans einmal mehr ins Leere laufen. „Inglourious Basterds“ weigert sich strikt, sich in irgend eine spezielle Schublade stecken zu lassen. Obwohl der Film sich offensichtlich am staubtrockenen, lakonischen Charme schmutziger Eurowestern orientiert, laufen die messerscharfen Dialoge – jeder einzelne ein Highlight für sich – diesem Ansatz konsequent zuwider. Dabei ist der von einer kontinuierlichen (An-)Spannung durchzogene Prolog, in dem Judenschlächter Landa rund zwanzig Minuten zweideutig um den heißen Brei herum redet und mit dem bemitleidenswerten Bauern verbalen Pingpong spielt, das Eintrittsgeld schon ganz allein wert. Tarantino zelebriert solche Szenen bis zum Exzess, kostet sich bis ins kleinst Detail genussvoll aus und zieht auf tollkühne Weise alle Register seiner grenzenlosen Fantasie. Die von maßgeschneiderten Sommerblockbustern verwöhnten Mainstream-Aficionados werden ob solcher vereinnahmender Eigenwilligkeiten – wie schon bei „Death Proof“ - zwar verschreckt die Stirn runzeln, doch kann man Tarantino nur schwer Selbstverliebtheit unterstellen, solange das Zusehen derartiges Vergnügen bereitet wie hier. Urkomisch die Szene, in der sich Raine und Donowitz im Foyer des Kinos als Südländer ausgeben und mit behelfsmäßigen Brocken Italienisch über Wasser halten, bevor sie mit dieser Lüge eine böse Bruchlandung erfahren.
Auch die täuschend authentisch wirkende Kriegsfilmverkleidung nutzt Tarantino lediglich als Plateau, um seine unbändige Liebe zum Kino abermals hinreichend zu demonstrieren. Dass Adolf Hitler und seine Gefolgsleute wie Göring, Goebbels & Co. Hier ausgerechnet durch leicht entflammbares Zelluloid zu Tode kommen, spricht Bände. Tarantino ist ein hoffnungsloser Filmverrückter, dem das Kino seit Kindertagen in den Adern fließt. Daher sei ihm natürlich auch die Lizenz für die eine oder andere Abänderung in den fest verbindlichen Geschichtsbüchern erteilt. Mit Selbstreferenzen und Querverweisen hält der Meister indes auch in seinem neuesten Streich nicht hinterm Berg: Brad Pitts Figur Aldo Raine nimmt etwa unmittelbar Bezug auf Aldo Ray, den Star zahlloser billiger B-Movie-Schinken der 50er Jahre. Der von „Hostel“-Regisseur Eli Roth verkörperte „Bärenjude“ Sgt. Donowitz ist ein Namensvetter des Filmproduzenten Lee Donowitz aus „True Romance“. Der Name des Rekruten Wilhelm Wicki ist eine Anspielung auf Bernhard Wicki, den deutschen Nachkriegsregisseur und -schauspieler. Dazu übernimmt Tarantino ein Musikstück aus „Kill Bill“ und kopiert offenbar ganze Kamerafahrten und -einstellungen seines zweiteiligen Racheepos`, inklusive eines Schwenks aus der Adlerperspektive über die Flure von Shosannas Kino, der jenem über das Interieur des japanischen Teehauses ähnelt, in dem Uma Thurman die „Verrückten 88“ mit ihrem Samuraischwert zum Todesballett bittet. Einen besonderen Platz räumt Tarantino darüber hinaus dem deutschen Kino der 30er und 40er Jahre ein. Huldigungen einstiger UFA-Größen wie Emil Jannings, Georg Wilhelm Pabst und Leni Riefenstahl, auf die Tarantino große Stücke setzt, ziehen sich durch den gesamten Film.
Dass das querdenkenden Mastermind aus der Stadt Knoxville im Bundesstaat Tennessee in den gut siebzehn Jahren seiner Regisseurslaufbahn schon einigen in der Versenkung verschwundenen Stars zu Sensations-Comebacks verholfen hat, ist bekannt. Sei es nun John Travolta („Pulp Fiction“), Kurt Russell („Death Proof“) oder auch Blaxploitation-Heroine Pam Grier („Jackie Brown“). Dass ein Til Schweiger trotz angestrengter Gehversuche in Hollywood nie richtig dort Fuß fassen konnte, daran wird sich wohl auch durch „Inglourious Basterds“ nicht viel ändern, auch wenn der gebürtige Freiburger als Nazijäger mit unruhigem Finger am Pistolenabzug wunderbar gegen den Strich besetzt ist. Brad Pitt schafft mit dem verwegenen Anführer der „Basterds“ einen weiteren ikonografischen Charakter und kann in Sachen Coolness an goldene „Fight Club“-Zeiten anknüpfen, wobei die Rolle des Aldo Raine die des demoralisierenden Seifenverkäufers Tyler Durden zumindest in Schrägheit und Wortwitz noch übertrifft. Die herablassenden „Kosenamen“, die sich Lt. Raine für die verhassten Nazifeinde ausdenkt, sind herrlich originell. Und auch die restlich deutsche Schauspielgarde gibt sich keine Blöße und ist neben den an vorderster Front auftrumpfenden Herren Brühl, Diehl und Burkhard bis in die Statistenrollen hinein prominent besetzt. Die vielerorts gescholtene Diane Kruger muss im direkten Vergleich mit ihren deutschen (und internationalen) Kolleg(inn)en zwar etwas zurückstecken, ist aber beiweitem nicht so schlecht, wie es in der Fachpresse zu lesen war.
Als echte Entdeckung erweist sich Mélanie Laurent, die sich als neue Muse Tarantinos problemlos ins Rampenlicht katapultieren dürfte. Mit eng anliegendem roten Kleid, mondänem Gesichtsschleier und Zigarettenspitze wirkt der französische Shootingstar nicht nur äußerlich wie eine femme fatale der „Schwarzen Serie“, im furiosen Schlussakt, einer Art Mexican Standoff im Dritten Reich, macht sie diesem Titel auch inhaltlich alle Ehre. Und Tarantino, der Madame Laurent mit der Kamera regelrecht umschmiegt, belegt mal wieder eindrucksvoll sein Händchen für absolute Idealbesetzungen. Getoppt wird das alles noch vom Österreicher Christoph Waltz, vor dessen Leistung man sich eigentlich nur ehrfurchtsvoll verneigen kann. Waltz bewegt sich als intellektueller, welt- und wortgewandter SS-Vollstrecker Hans Landa mit Bravour auf der Schnittstelle zwischen gefasstem, überlegtem (Kriegs-)Taktiker mit hoher Menschenkenntnis und brutalem, größenwahnsinnigem Soziopathen, der so ganz anders ist als man sich einen herkömmlichen Nazi vorstellt. Landa verhöhnt das diktatorische Regime, er steht sozusagen über ihm. Er ist ein abgehobener Machtfetischist, der seinen niederträchtigen Job als Mittel zum Zweck missbraucht, um sich selbst zu inszenieren, in den Mittelpunkt zu rücken. Waltz, der als verdienten Lohn für sein schauspielerisches Husarenstück bereits den Darstellerpreis in Cannes bekam, ist, wenn es so etwas wie Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt, auch ein heißer Kandidat für die kommende Oscar-Verleihung.
Summa summarum: „Inglourious Basterds“ ist ein definitives Muss im Kinojahr 2009! Die grandiose, ungezügelte, vor durchgeknallten Ideen und Finessen überschäumende Weltkriegsmär mit einem Schuss Italowestern nimmt weder auf die Erwartungshaltung der breiten Masse noch auf historisch belegte Fakten Rücksicht – und macht gerade deshalb enormen Spaß. Trotz mancher klitzekleiner „Flüchtigkeitsfehler“ bei der Homogenisierung der einzelnen Episoden, die dem Meister aufgrund seines begeisternden Wagemutes aber blind verziehen werden, ist der neue Tarantino ein erfrischender Geistesblitz mit einem Hauch von Genialität. Popkultur meets World War II, Pulp noir und Spaghettitrash – das mundet!