„Anora“, der neue Film von Sean Baker, ist bei weitem mehr, als das was die Trailer zu Beginn versprechen ließen. Der Sieger in Cannes handelt von der Sexarbeiterin Anora, kurz Ani, die dort auf den sehr jungen, russischen Oligarchensohn Ivan, auch Vanya genannt trifft, der sich die Dame einkauft, mietet, als Freundin für eine Woche bucht und schließlich heiratet, was der nur am Kapital interessierten Familie gar nicht in den Kram passt.
Rein vom Inhalt könnte man eigentlich eine klassische Komödie erwarten, die unter anderer Regie wohl auch zu dieser geworden wäre und am Ende die Cinderellastory wartet. Baker tut dies hier nicht. Er verbindet einzelne Genre und bildet daraus seine eigene Welt, in welcher sich kitschige Bilder, mit erotischen Körpern in Neonlicht paaren, schräger Humor, der stellenweise auch über die Stränge schlagen kann, sich abwechseln mit körperlichen Auseinandersetzungen.
Mikey Madison, die sich hier für den Oscar empfiehlt, schafft es dabei in Perfektion ihre Figur zu einem Opfer einer kapitalistischen Gesellschaft zu machen, die sich in allen Aspekten ausbeuten lässt, von einem Menschen, der selbst nicht geleistet hat, aber die finanzielle Traghaft hat um sich alles zu erlauben. Vanya, wirkt dabei wie ein kleines und trotziges Kind, das sich ebenso verhält, kaum Intellekt besitzt und sich alleine durch seinen Protz profiliert und ausdrückt. Kiffen, Party und Zocken stehen an der Tagesordnung und wenn er Sex will wird sich Ani gefügig gemacht. Dabei besitzt er weder Anstand, Rückrad und Empathie. Dennoch schafft es Baker uns auch diese Figur noch eine Zeit lang sympathisch zu machen, da er Ani keinen Mann um die 50 entgegen setzt, der die Ausbeutung klar machen würde, sondern es ist ein 21jähriges Kind.
Zwischen all dem befindet sich nicht nur Ani, die ausgebeutet wird, sondern auch die drei Handlanger, die für jeden kapitalistischen Konzern als perfekte Arbeitskraft zählen würde, da sie keinen Feierabend kennen, mit körperlichen Leiden durchhalten müssen, quer durchs Land reisen müssen, ihre Familie vernachlässigen oder gleich mal den ganzen Geburtstag gestohlen bekommen. Alles um die Launen eines Kindes auszugleichen und weil sie Opfer des Kapitalismus sind.
Baker geht hart, aber völlig zurecht mit diesen Menschen ins Gericht und schafft es dabei seine Genre so gut zu paaren, dass eine Szene, die sehr lange im Wohnzimmer der Villa spielt, mit skurrilem Humor, unterhaltsamer Gewalt und Slapstick zu paaren, was aber ebenso schnell in eine übergegriffige Handlung der Handlanger gegenüber Ani zu verstehen ist, die unzählige Straftaten ertragen muss durch Vanyas Familie, die rechtliche Folgen haben müssten, aber durch die Macht der Familie nie zum Tragen kommen. Dann bezahlt man den Reinigungsdamen einfach etwas mehr und Problem gelöst. Diese Gratwanderung, in welcher das Gesehene oft unangenehm wird, erscheint hier häufig.
Man kann sich fragen ob Anora wirklich Gefühle für Vanya hatte und vermutlich hat auch sie ihn nur ausgenutzt, da sie eine Chance witterte aus ihrem Leben auszubrechen, doch macht dies alles sie vielschichtig und greifbar, was nicht nur an dem, wie schon erwähnt, starkem Schauspiel von Mikey Madison liegt, sondern auch an ihrer guten Chemie und Dynamik zu Handlanger Igor, zu dem sich schnell mehr anbahnt und die beiden auch, besonders im letzten Teil, eine starke Szene nach der Anderen bekommen, die im vielleicht traurigsten und stärksten Finale des Jahres gipfelt.
„Anora“ bekommt von mir eine uneingeschränkte Sehempfehlung und ist eines der großen Highlights des Jahres, hinter dessen Fassade sich deutlich mehr versteckt als Trailer und Poster vermuten lassen und ein starkes Statement gegen Ausbeutung und Kapitalismus ist.