Man kann Clint Eastwoods Film unmöglich beschreiben, ohne mit Sidney Lumets "Die 12 Geschworenen" zu beginnen. Denn "Juror #2" zitiert dieses Gerichtsdrama nicht nur mit voller Absicht und überreichlich, sondern tut dies auch, um sich danach nur umso drastischer als dessen Gegenentwurf zu positionieren.
Kurz zur Erinnerung: Sidney Lumets Schwarzweißfilm von 1957 ist etwas vom Besten, was Hollywood jemals auf Zelluloid gebannt hat! Ein auf's extremste reduziertes Kammerspiel: Ein Raum, zwölf Geschworene mit ebensovielen persönlichen Vorurteilen und ein Mordfall, an dem sich alle bis in ihre allertiefsten Abgründe hinab abarbeiten dürfen. Das einzigste, was man diesem Meisterwerk allerdings vorwerfen muss ist seine überzuckersüße Botschaft: Schaut her, unsere amerikanische Schwurgerichtsjustiz funktioniert doch superprima! Denn wenn Juror #8 (=damals Henry Fonda) am Ende von Lumets Film das Gerichtsgebäude verlässt, dann hat das etwas vom glorifizierten Heiligenschein der alten Hollywood-Western, wenn der Cowboy dort in den Sonnenuntergang reitet, nachdem er der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen hat.
Und heute, 68 Jahre später kommt Clint Eastwood mit seinem Film "Juror #2" und zerlegt diesen schönen Selbstbetrug. Und zwar gnadenlos! Wiederum haben wir ein Kammerspiel aus zwölf Geschworenen in einem Mordprozess und wiederum sind es die inneren Abgründe der Geschworenen, welche den Film vorantreiben. Nur dass es diesmal der Juror #2 Justin Kemp (Nicholas Hoult) ist, der in der Klemme steckt: Schon am ersten Verhandlungstag offenbart sich ihm, dass der des Mordes an seiner Freundin Angeklagte unschuldig ist. Denn Ort und Zeit der Tat lassen Justin schaudernd erkennen, dass er selbst es war, der damals in jener Tatnacht in strömenden Regen nicht etwa ein Reh mit seinem Auto angefahren hat, wie er bisher selber dachte, sondern stattdessen die Freundin des Angeklagten getötet hatte.
Die Jury ist felsenfest von der Schuld des mehrfach vorbestraften Angeklagten überzeugt. Und so steckt Juror #2 in der Klemme: Schweigt er, dann wird ein Unschuldiger wegen Mordes verurteilt; gesteht er die Tat, dann geht er selber für viele Jahre ins Gefängnis und sein eigenes Leben und das seiner Familie ist auf ewig verpfuscht. Dass seine Frau mit einer Hochrisikoschwangerschaft jeden Moment ihr erstes Kind erwartet und die Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) allen Eifer daran setzt, den Angeklagten TV-wirksam verurteilt zu bekommen, um die anstehenden Wahlen zu ihrer Berufung als Oberstaatsanwältin zu forcieren, machen die Sache nur noch schwieriger..
-Ob nun Juroren, Staatsanwältin, Verteidiger, Angeklagter, Polizisten: Niemand ist in diesem Film wirklich moralisch integer, geschweige denn ein "Held". Jeder ist ambivalent, verfolgt egoistische Ziele und laviert sich irgendwie durch. Clint Eastwood gelingt es meisterhaft, die Spannung immer weiter anzuziehen. Die Schlinge um Justin zieht sich immer enger, je näher der Ausgang des Schwurgerichtsprozesses rückt. Wird Justin ungeschoren davonkommen? Wird er es zulassen, dass ein Unschuldiger seinetwegen wegen Mordes verurteilt wird?
Der Ausgang dieses packenden Dramas sei hier natürlich nicht verraten. Aber Eastwood hat hier auf seine alten Tage nochmals ein Glanzstück seiner Karriere abgeliefert: Schmutzig, kritisch, bitter -ein Film, der noch lange nach seinem Ende zum Nachdenken anregt, weil man sich an dessem Ende natürlich zwangsläufig die Frage stellt: Wie hätte man denn selber in der Situation von Juror #2 gehandelt?
Einen Stern Abzug gibt es von mir für die doch arg strapazierte Handlung: Die Beweislage gegen den Angeklagten ist so dünn, dass es in der Realität sicherlich nie einen Gerichtsprozess gegeben hätte. Aber wer das ignorieren kann, erlebt knapp zwei Stunden bestes Suspense-Kino.