Fragen & Analyse
Wer ist R.M.F.?
Lanthimos selbst äußerte in einem Interview, dieser R.M.F. sei eigentlich niemand. Tatsächlich hat R.M.F. immer die Rolle des „unabsichtlichen Störenfrieds“. Er ist nicht direkt schuld an den Konflikten der einzelnen Kurzfilme, aber er ist deren Objekt. So ist R.M.F. derjenige, der im ersten Teil ermordet werden soll; da der Protagonist dies nicht übers Herz bringt, entsteht ein Konflikt. R.M.F. bringt die verschollene Liz im 2. Akt zurück (er ist der Pilot im Rettungshubschrauber), auch dies ist der zentrale Moment der Probleme, die dann auftreten werden. Denn während Liz selbst während ihres Aufenthalts auf der Insel, auf der sie gestrandet war, Daniel geradezu fetischisiert, entsteht in Daniel ein idealisiertes, der echten Liz fremdes Bild von ihr. Liz‘ Rückkehr, die Erfüllung und gleichzeitige Vernichtung von Daniels Illusionen, ist also die große Krise. Diese „Liz zu viel“, dieser „Liz-Überschuss“, welcher in Daniels Kopf während ihrer Abwesenheit entstanden ist, hat ihren Platz eingenommen; für Daniel ist diejenige Liz, die gerade von R.M.F. zurückgebracht wurde, also eine schlechte Imitation im Vergleich zu seiner Idealversion, ein gemeiner Eindringling in seine Fantasie. Später dazu mehr. Auch im letzten Akt erfüllt R.M.F. die Funktion des unabsichtlichen Schurken, da er hier die Leiche ist, die von der spirituell begabten Tierärztin zum Leben erweckt wird. Dadurch hetzt Emily mit der Tierärztin in ihrem Sportwagen zu der Sekte, um deren Gunst zurückzugewinnen. Schließlich löst sie einen Autounfall aus, bei dem die spirituell begabte Tierärztin stirbt.
R.M.F. wird am Ende, nachdem der 3. Akt vorbei ist, gezeigt, wie er vor einem Imbiss-Stand sitzt und genüsslich isst. Er bespritzt versehentlich sein Hemd mit Ketchup, als er versucht, dies mit einer Serviette zu reinigen, verschmiert er es maßlos und macht es erheblich schlimmer – DAS ist R.M.F.s Funktion in dem Film. Er ist der Störenfried, der eigentlich völlig hörig und ohne böse Gedanken handelt, trotzdem nur Chaos verursacht.
Wer ist der Doppelgänger von Liz?
Wie ich im Teil über R.M.F. schon vorgegriffen habe, handelt es sich bei jener gestrandeten Liz, die gerettet wird, um eine unvollkommene Kopie der Liz-Vorstellung in Daniel. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan schreibt: „Das Begehren ist das Begehren des Anderen“. Hier ist nicht nur gemeint, dass man den „Anderen“ begehrt, sondern auch, dass man immer das begehrt, was der „Andere“ diktiert. Aber wer ist eigentlich dieser „Andere“? Vereinfacht ausgedrückt ist dieser „große Andere“, oder auch einfach „A“ bei Lacan, die Gesamtheit aller Forderungen, Anforderungen, welche aus verschiedenen, oft widersprüchlichen Richtungen (Eltern, Großeltern, Lehrer usw.) an das Subjekt gestellt werden, sowie aller Klischees, sozialen Normen etc. Die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem großen Anderen ist paradox: Einerseits begehrt das Subjekt das Andere (Begehren des Anderen) an sich, andererseits begehrt es den Anderen selbst (Ich will wissen, was der Andere an mir begehrt, ich will, dass er es mir diktiert). Diese Dynamik sehen wir im 2. Akt des Filmes im doppelten Sinne:
1. Liz fragt Daniel immer wieder, was auf der Welt sie denn für ihn tun kann, um seine Zweifel, seinen Trübsinn beenden zu können. Er befiehlt ihr, sich einen Finger abzuschneiden, damit er diesen verspeisen kann. Danach, am nächsten Tag, lebenswichtige Organe. Für Liz, die Daniel während ihrer Zeit auf der Insel ebenso fetischisiert und idealisiert hat wie er sie, ist ihre Idealvorstellung von ihm ihr großer Anderer. Sie begehrt zu wissen, was er begehrt, begehrt aber gleichzeitig das Andere, dass also Daniel seine Art, mit ihr umzugehen, ändert. Sie adressiert also in ihrem Begehren des Anderen seine Unvollkommenheit, während sie gleichzeitig unbedingt wissen möchte, was er begehrt.
2. Auch Daniel erhält Anrufungen von einem großen Anderen, der aber etwas subtiler auftritt. Der große Andere ist hier materialisiert als ein Sex-Tape, das Liz und Daniel zusammen mit einem befreundeten Paar aufgenommen haben. Nachdem Liz durch das Schiffsunglück verschwunden war, treffen sich Daniel und eben jenes Paar zum Essen. Daniel sieht sich beinahe fanatisch dieses Video an, während die beiden anderen dies eher als unangenehm empfinden. Dieses Video ist für Daniel der große Andere, der gemeinsame Nenner aller Forderungen, Gesetze, Klischees, Normen etc., die ihn anrufen. Als Liz nun zurückkehrt, stellt er fest, dass sie sich erheblich von den Vorstellungen des großen Anderen unterscheidet. Da dieser sich nicht irren kann, muss die Welt sich irren: Dies ist nicht Liz. Die Pointe in der Geschichte ist nun, dass Lanthimos hier dem großen Anderen recht gibt: Daniels ideale Liz tritt als eine Art perfekter Doppelgänger auf, als sich die „unechte Liz“ auf Daniels Befehl selbst ein Organ entfernen will und dabei stirbt.
Lanthimos beschreibt hier also eine Welt, die komplett diktiert ist vom großen Anderen, sogar die Naturgesetze sind in dem Film außer Kraft – denn der Andere will es so. In gewisser Weise ähnelt dies dem Thema des 1. Films, in dem der Vorgesetzte, ebenfalls der große Andere, der Unmögliches verlangt, jeden Aspekt des Lebens des Protagonisten kontrolliert.
Der scheinbare „Doppelgänger“ von Liz ist also in der Tat die wahre, echte Liz.
Was soll das mit den Hunden?
Am Ende von Akt 2 sehen wir eine sehr kurze Collage von Alltagssituationen bzw. menschlichen Phänomenen (Autofahren, Suizide etc.), welche aber alle von Hunden ausgeführt werden. Dieses Konzept hatte Liz bereits erwähnt, sie erzählte, dass sie auf der Insel, auf der sie einige Tage gestrandet war, von genau dieser Hundewelt geträumt hatte. Ironischerweise wird hier der Traum beider Charaktere wahr: Daniel erhält eine originale Kopie von Liz und Liz selbst? Die Idee, dass Hunde die Welt regieren, ist eine klassische Umkehrung von Herr und Knecht. Man kann sich vorstellen, wenn es auch nicht gezeigt wird, dass diese Hunde Menschen als Haustiere halten. Liz, die von den Anforderungen, Anrufungen ihres großen Anderen überfordert ist, betrachtet diesen Umstand als Befreiung, ein Leben als Haustier ist einfach, fast verlockend simpel. Auch hier wiederholt sich das Motiv vom ersten Mal auf andere Weise: Der Weg in die Sklaverei (im ersten Akt unter dem Vorgesetzten, im zweiten unter die Hunde, das durch die übernatürlichen Kräfte des großen Anderen wahrgewordene Begehren) ist am Ende die ideale Befreiung. Der Wunsch, sich dem großen Anderen endlich komplett zu unterwerfen, wird hier schlussendlich synchron befriedigt mit dem Begehren der „Überwindung“ des Anderen, ja, dem Begehren des Anderen. Man kann also sagen, das Ende von Akt 2 ist ein großes, makabres Happy End.
Insgesamt entwirft Lanthimos hier eine faszinierende Welt voller Neurosen, Fetische, Obsessionen, die durch die Anrufungen des großen Anderen erzeugt werden. Überraschenderweise stattet Lanthimos den großen Anderen mit übernatürlichen Kräften aus, sagt damit, dass diese unmöglichen Anforderungen, die er an uns stellt, nur erfüllt werden könnten, wenn Übernatürliches im Spiel wäre und stellt uns eine ganz klassische und fast märchenhafte Frage: „Wollen wir wirklich, dass unsere Wünsche wahr werden?“