Diese Epidemie würde garantiert niemand mit einer Grippe vergleichen
Von Lutz Granert„Blutgericht in Texas“ alias „Texas Chainsaw Massacre“ (1974) weist längst nicht nur in Deutschland eine lange Verbotsgeschichte auf – und das ist ja auch kein Wunder: Schließlich markierte der preisgünstig produzierte Horror-Thriller über eine mörderische Kannibalen-Sippe die Geburtsstunde des sogenannten „Terror-Kinos“. Bis heute ist der Film von Tobe Hooper in diesem Genre das Maß aller Dinge – und so gibt es darin auch verschiedene Standards, die bis heute nachwirken: etwa die nur schwer aushaltbaren (psychischen) Folterszenen oder das Motiv des final girl, welches in der letzten Szene gerade so dem Kettensäge schwingenden Leatherface entkommt.
Der US-amerikanische Filmemacher John Rosman zählt den Terror-Klassiker, den er mit 14 Jahren zum ersten Mal sah, zu seinen persönlichen Lieblingsfilmen. So weit, so normal. Überraschender ist da schon, welcher zweite Film in zu seinem eigenen Debüt als Autor und Regisseur inspirierte: Das war nämlich die ungleich weniger berüchtigte Independent-Perle „Wendy And Lucy“ von 2008, in der sich Michelle Williams als verarmte Obdachlos aufopferungsvoll um ihren Hund kümmert. Das klingt im ersten Moment nach einer kruden Mischung. Aber im Survival-Thriller „New Life“ gehen trotz des sichtlich schmalen Budgets handfeste Gore-Einlagen und eine bittere Abrechnung mit dem amerikanischen Freiheitsideal erstaunlich harmonisch und erfrischend Hand in Hand.
Die an einer unheilbaren Nervenkrankheit leidende FBI-Agentin Elsa Gray (Sonya Walger) wird kurz vor ihrer Pensionierung auf eine Zielperson angesetzt. Ihr Auftrag: Sie soll die Ausreißerin Jessica Murdock (Hayley Erin), die sich auf dem Weg zur kanadischen Grenze befindet, ausfindig und unschädlich machen. Jessica glaubt, dass sie wegen Mordes verfolgt wird. Doch in Wahrheit trägt sie einen hochgradig ansteckenden Virus in sich, der sich immer weiter um sie herum ausbreitet…
In „Like A Rolling Stone“ beschreibt Nobelpreisträger Bob Dylan das Schicksal einer Frau, die zunächst wenig übrig hat für Obdachlose und Landstreicher – bis sie selbst in die Armut abrutscht und plötzlich selbst auf der Straße lebt. Nicht nur bei der Einführung von Elsa Gray ist der einflussreiche Folk-Song zu hören, dessen Lyrics sich auch auf das Schicksal der beiden weiblichen Hauptfiguren in „New Life“ hervorragend anwenden lassen. Der Evergreen wird hier regelrecht zum Leitmotiv: Auf der einen Seite steht mit der von Hayley Erin ebenso rastlos wie unnahbar verkörperten Jessica eine junge Frau, die während eines Urlaubs mit ihrem Verlobten mit einem knuffigen Collie knuddelt – und so in Kontakt mit einem mysteriösen Erreger in Kontakt kommt. Fortan flieht sie ohne feste Bleibe vor den Behörden.
Auf der anderen Seite steht die von Sonya Walger („Anon“) eiskalt und abgebrüht gespielte Elsa. Die Agentin wirkt zugleich aber auch nachdenklich, wenn sie mit ihrem zunehmend den Dienst versagenden Körper ringt und sich neben der Ermittlungsarbeit im Gespräch mit anderen ALS-Betroffenen darüber informiert, was ihr im weiteren Verlauf der Krankheit noch alles bevorsteht. „How does it feel?“, will Bob Dylan im Refrain von „Like A Rolling Stone“ wissen – und das ist hier eine ganz schön zynische Frage: Neben Jessica kann schließlich auch Elsa nicht mehr vor ihrem drohenden Schicksal fliehen. Es wirkt fast so, als seien die beiden Frauen trotz ihrer grundverschiedenen Situationen doch so etwas wie ein Spiegelbild voneinander.
Dabei lässt Rosman, der auch selbst das Drehbuch geschrieben hat, lange Zeit offen, was für einen Erreger Jessica eigentlich genau in sich trägt – und was dieser bei infizierten Menschen eigentlich auslöst. Bei der arg zurückgenommen präsentierten Auflösung, die sich bei einem konstant hohen Spannungslevel über Telefongespräche und getippte Transkriptionen erschließt, offenbaren sich allerdings erzählerische Schwachstellen. Ein regelrecht kafkaesker Überwachungsapparat, der hinter dem heiklen FBI-Einsatz zu stehen scheint, bleibt ebenfalls nur vage angedeutet.
Diese beiden Punkte können sicherlich auch ein Stück weit dem sichtlich schmalen Budget zugeschrieben werden: Weitere Erklärungen wären ohne längere Actionszenen, teure Sets oder Pyrotechnik wohl nicht ausgekommen – und gerade der Dreh an Originalschauplätzen wie Farmen, Feldern und (Klein-)Städten im US-Bundesstaat Oregon verleihen „New Life“ nach den Erfahrungen der Covid-19-Pandemie einen beklemmend realistischen Anstrich.
Effektvoll ist der Survival-Thriller schließlich auch so – gerade dank des schaurig-schönen Make-ups mit reichlich Ekel-Faktor. Wenn Infizierten erst kleine rote Pusteln wachsen, bevor regelrechte Pestbeulen ihren Köpfen groteske Ausstülpungen verleihen, wähnt sich das Publikum ja schon fast in einem Body-Horror à la David Cronenberg („Crimes Of The Future“). Für einige ordentliche Schockmomente ist also selbst inmitten eines sensiblen Charakterdramas durchaus gesorgt.
Fazit: Regiedebütant John Rosman ist mit sichtlich schmalem Budget ein angenehm subtiler Schocker gelungen, der die Balance zwischen Horror und Drama erstaunlich gut austariert. „New Life“ liefert neben hervorragenden Make-up-Effekten auch einige Denkanstöße zum Wert der persönlichen Freiheit.