Aufforderung zum würdevollen Altern oder the show must go on
Producer Harvey (Dennis Quaid) macht der TV-Aerobic-Queen Elisabeth Sparkle (Demi Moore) klar, dass sie aufgrund ihres Alters ausgedient hat. Nach einem Autounfall wird ihr im Krankenhaus inoffiziell eine Art Klonsubstanz angeboten, die Elisabeth in einen jungen Superstar verwandeln kann.
„The Substance” habe ich auf dem 41. Münchner Filmfest gesehen.
Coralie Fargeat bewies 2017 mit ihrem Spielfilmdebüt „Revenge“ nach eigenem Drehbuch ihre Qualitäten. Den bluttriefenden Rachetrip der missbrauchten Jen (Matilda Lutz) bügelte sie genial stilsicher auf die Leinwand. Offensichtlich hat das bei den Produzenten so viel Eindruck hinterlassen, dass der Französin ein fettes Budget für „The Substance“ an die Hand gegeben wurde. Sie hat damit ein Drehbuch geschrieben und eine perfekte Body-Horrorsatire abgeliefert.
Straight laufen die 140 ekligen Minuten, ungewöhnlich lange in dem Genre. Einiges an Ausdruck wurde aus „Revenge“ übernommen. Die Handschrift der Regisseurin ist nach nur zwei Filmen unverkennbar. Sie bringt reichlich Details unter, beginnend mit Eiern und einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame.
Es ist nicht alles abscheulich. Ganz im Gegenteil: Hübsche Showgirls stehen im Hochglanzmittelpunkt, insbesondere Elisabeth, die sich nach Gebrauch der Substanz als Sue (Margaret Qualley) auf die freigewordene Stelle bewirbt. Ein Film für Männer? „Nicht mehr zeitgemäß“, sagte meine Platznachbarin. Aber von Frau Fargeat geschaffen, nicht zur Befriedigung des vermeintlich starken Geschlechts. Harvey ist das Arschloch der Geschichte. Er will die Puppen tanzen lassen, benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen, in schmierigen, vor Selbstüberzeugung strotzenden Monologen herrlich gespielt von Dennis Quaid sowie eingefangen aus großartig unappetitlicher Nähe neben einer abstrusen Geräuschkulisse. Jede der aufwändigen Einstellungen von Kameramann Benjamin Kracun („Promising Young Woman“, 2020 von Emerald Fennell) passt einwandfrei.
Fargeat widerlegt, dass Frauen im Alter von Demi Moore keine gescheiten Rollen mehr kriegen, denn die erfahrene Schauspielerin wird gerade als enttäuschte, am Boden zerstörte Elisabeth Sparkle unentbehrlich. Sie zieht alle Register ihres Könnens.
Körper platzen auf, verändern ihre Form, um im Ergebnis neue Pracht zu entfalten, ausgesaugt, injiziert, wieder ist das Publikum sehr nah dabei. Ja, lasst der Jugend ihren Raum, die Jugend muss leben, toben. Sue ist ein Teil der einstigen Diva, trägt den heißspornigen Kopf der früheren Elisabeth in einer mondänen, fordernden Welt, hält sich nicht an die Regeln für die Anwendung der Substanz, Nebenwirkungen treten auf (nicht ohne die nächsten abstoßenden Close-ups), spontane Entscheidungen müssen folgen, kein Verschnaufen möglich. So wird „The Substance“ zudem unbeschreiblich fesselnd wie komplex, begleitet durch einen treibenden Score bis ins blutüberströmte bittere Finale, das die unbedingte Sucht der Stars nach der Bühne ausdrückt. Nie außer Acht gelassen, behält das komische Moment meisterhaft seinen Level. Das Drehbuch bescherte Coralie Fargeat eine Auszeichnung in Cannes, der Film bekam eine Nominierung im Wettbewerb um die Goldene Palme.
Ein echter Burner, stylish, geradeaus. Jeder Mensch ist irgendwann verblüht. „The Substance“ sollte deswegen zumindest der Fan des Body-Horrors nicht auslassen.