Himmelschreiende Ungerechtigkeit
Von Janick NoltingWenn die Kamera von Julien Poupard aus dem Himmel hinein in die Wohnblock-Siedlung fliegt, dann ist das ein Ort zwischen Werden und Vergehen. Im Hintergrund hämmert und werkelt es auf der Tonspur. Man arbeitet an Gebäuden, Straßen oder woran eigentlich genau? Die Bewohner*innen kämpfen derweil vergeblich um eine Perspektive und sozialen Aufstieg. Man befindet sich in einem permanenten Übergang, wartet auf Schreiben und Genehmigungen von Behörden – die dann doch nicht kommen oder verwehrt werden. Zugleich hängt man fest im Verfall. Zu Beginn des Films wuchten Männer in quälender Dauer einen Sarg die engen Treppen im Wohnblock herunter. Der Fahrstuhl funktioniert schon lang nicht mehr. Vergessene und im Stich Gelassene leben hier.
Nach dem herausragenden „Die Wütenden – Les Misérables“ ist „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ ein weiterer Langfilm des französischen Regisseurs Ladj Ly über die harte Realität in den französischen Banlieues. Mehrere Filme haben sich in der jüngeren Vergangenheit mit diesem Thema und den Räumen beschäftigt, die man oft als „soziale Brennpunkte“ bezeichnet und stigmatisiert. Zu nennen sind etwa „Rodeo“, „Spiders – Ihr Biss ist der Tod“ oder „Athena“, an dessen Drehbuch Ly beteiligt war.
Das alles sind Werke über die Konflikte und Probleme der Menschen in den armen Vororten, über deren Auseinandersetzungen untereinander, aber auch mit den Behörden und der Staatsgewalt. Filme, die zugleich immer auch versuchen, einen neuen Blick auf Kriminalität und widerständige Gesten zu werfen und ein Bild von Europa zeichnen, in dem angestauter Frust und armenfeindliche Politik für fundamentale Erschütterungen sorgen – bis zur Eskalation.
„Die Unerwünschten“ zeigt ein markantes, buchstäbliches Erschütterungsbild gleich in den ersten Minuten. Ein altes Haus in der Siedlung wird gesprengt. Als der Bürgermeister den Auslöser betätigt und eine Staubwolke auf die umstehende Menge zurast, steht das Herz des Politikers plötzlich still. Die Menschen, die in dem Pariser Vorort leben, sehnen sich nach besseren Wohnbedingungen und Lebensverhältnissen, darunter auch die junge Haby (Anta Diaw). Doch in der Politik werden längst andere Ziele verfolgt. Der reaktionäre Arzt Pierre Forges (Alexis Manenti) kommt als neuer Bürgermeister an die Macht und setzt alles daran, die Migranten aus der Gegend zu vertreiben…
„Die Unerwünschten“ ist ein aufrüttelnder, kraftvoller Film, weil er mit erbarmungsloser Konsequenz die Auswirkungen und die Rhetorik jener Politik vorführt. Weil man den eigenen rassistischen Ressentiments, Ängsten und Unsicherheiten erliegt, regiert man mit sozialer Kälte und besitzt am Ende noch die Dreistigkeit, Restriktionen und Diskriminierungen als Schutz und Fürsorge zu verkaufen. Wenn der neue Bürgermeister etwa Ausgangssperren und Versammlungsverbote gegenüber Jugendlichen verhängt und man überlegt, welche dürftigen Argumente man vorschieben kann, um den ohnehin Mittellosen die letzten Existenzgrundlagen zu nehmen – dann ist dieser Film in seiner Grausamkeit schwer auszuhalten.
Vor allem gelingt Ladj Ly damit eine Kritik an Machtverhältnissen, die natürlich nicht nur in Frankreich, sondern etwa auch in Deutschland permanent auf der Tagesordnung stehen. Hier wie dort ist die Würde des Menschen nur so viel wert, wie sie zur Lohnarbeit und Wirtschaft taugt. Hier wie dort wird Integration verlangt, während man mit daran beteiligt ist, dass diese Integration scheitert. Die, die sowieso nichts haben und vor zahlreichen Hürden stehen, um beispielsweise überhaupt in ein Berufsleben einsteigen zu können, werden in Sündenböcke und eine verfügbare anonyme Masse, in einen Störfaktor verwandelt. Lebensumstände werden nicht verbessert, wenn man diese Verbesserung als Aufgabe allein in gebundene Hände legt.
„Die Unerwünschten“ spielt solche Kreisläufe, Klassismen und Rückschläge immer wieder durch und spitzt sie zu. Dieser sozialrealistisch aufgezogene Film verkompliziert die Konfrontationen und Feindschaften zusätzlich, indem er beispielsweise eine Figur namens Roger (Steve Tientcheu) einführt. Der Politiker besitzt selbst migrantische Wurzeln, hat jedoch den Aufstieg geschafft, bemüht sich um Solidarität und blickt trotzdem auf andere aus der migrantischen Community herab. Zugleich wird er für selbige wiederum zu einem eigenen Feindbild, zu einem Verräter.
„Die Unerwünschten“ bricht natürlich sehr komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge und Phänomene auf eine überschaubare Figurenkonstellation herunter. Und ihm liegt nicht viel daran, sie weiterzuentwickeln, die Figuren lange Wege zurücklegen zu lassen. Ihm geht es eher darum, die verfahrene Situation in ihrer ganzen Ausweglosigkeit zu spiegeln. Er ergreift Partei für die marginalisierten, mundtot gemachten Stimmen. Engagiertes Filmemachen ist das – mit einer klaren, unmissverständlichen Haltung. Das Spiel mit der Emotion beherrscht es mit links, aber aus nachvollziehbarem Grund: Es entfacht eine berechtigte Wut, Mitleid, vermittelt Einsichten. Es lässt gesellschaftliche Zustände im Kino zugleich begreifbar und unerträglich werden und stellt sich damit den Zynismus vorherrschender Diskurse in den Weg.
Ladj Ly wiederholt dabei nicht einfach die Struktur von „Die Wütenden“. Wo dieses Werk noch stringenter auf eine Eskalation zusteuerte, die sich im letzten Akt im puren Exzess und Chaos entlud, ist „Die Unerwünschten“ anders gestrickt. Man kann das als mäanderndes Auf und Ab bezeichnen. Es schmälert den Film im direkten Vergleich aber nur marginal. Das größte Chaos entfaltet Ly dieses Mal bereits im Mittelteil. Wenn er die Zwangsräumung eines Wohnblocks inszeniert, sind das einmal mehr apokalyptische, kaum zu fassende Szenen, in denen die Vertriebenen ihr letztes Hab und Gut aus den Fenstern werfen, ehe sie alle auf der Straße landen. Die vielen Nahaufnahmen von Gesichtern weichen in derlei Momenten präzisen Fahrten und Flügen, die ein weites Bild von der Hektik, Angst und Untergangsstimmung vermitteln.
„Die Unerwünschten“ erzählt schließlich vom Versuch einer Revolte, nur mit welchen Mitteln? Während die Protagonistin Haby anstrebt, in die Politik zu gehen und für das Amt der Bürgermeisterin zu kandidieren, wird bald deutlich, dass dieser Weg einem aussichtslosen Unterfangen gleicht. Wie viel Zeit bleibt für so einen Plan, wenn einem schlichtweg Ressourcen fehlen, wenn die reaktionären Privilegierten schneller sind und Tatsachen schaffen? Das heißt: Menschen gnadenlos das Obdach rauben. Also wird neue Kriminalität entfacht. Hass und Gewalt brechen sich Bahn, die im Finale des Films auf eine weitere hochgradig intensive Sequenz zusteuern, die keine Lösungen oder Befriedigungen im Kinosaal bieten kann. Vor allem aber hallt dieser starke Film mit seinem gespenstischen Schlussbild nach, das die vernichtende politische Gewalt eines Unrechtssystems in eine symbolträchtige visuelle Wunde und dunkle Leerstelle auf der Leinwand übersetzt.
Fazit: Ladj Ly gehört zu den spannendsten politisch engagierten Filmemachern der Gegenwart. Nach „Die Wütenden“ meistert er mit „Die Unerwünschten“ ein weiteres erschütterndes, aufgebrachtes und haltungsstarkes Banlieue-Drama, das nicht nur Frankreich, sondern die ganze Welt etwas angeht.