Implodierende Kaskaden - Christopher Nolan erzählt Geschichte
Es gibt eine einzige Szene in diesem Film, die für pure Kinomagie steht. Regisseur Christopher Nolan zeigt dort die Zündung der ersten Atombombe der Geschichte, den sogenannten „Trinity Test“ im US-Bundesstatt New Mexico. J. Robert Oppenheimer - Titelheld von Nolans neuestem Blockbuster - und sein Team aus Wissenschaftlern und Militärs beobachten dabei aus sicherer Entfernung das Ergebnis ihrer dreijährigen Arbeit. Kein Laut, weder Dialog, noch Score noch der zu erwartende ohrenbetäubende Krach einer explodierenden Atombombe ist zu hören. In absoluter Stille sehen wir fast schon majestätisch schöne Bilder von Feuer, Rauch und entfesselter Energie. Ein ebenso atemberaubender wie irritierender Moment, der zum Nachdenken zwingt und die enorme Tragweite der Situation erfahrbar macht. Großes Kino. Für etwa zwei Minuten. Des Problem ist nur, es gibt noch 178 weitere.
Denn so grotesk es klingen mag, die Visualisierung des „Trinity Test“ vom 16. Juli 1945 ist auch die einzige Szene, die für den Zuschauer so etwas wie Entspannung bedeutet. Nolans Opus Magnum ist nämlich kaum episch, dafür fast durchgängig hektisch. So hetzt er in seinem dreistündigen Biopic über den „Vater der Atombombe“ durch eine Hundertschaft an kurzen Szenen, die er chronologisch durcheinander würfelt, mittendrin unterbricht um sie irgendwann später zu Ende zu führen. Dazu stopft er sie mit Dialogen und Figuren dermaßen voll, dass einem schon nach 10 Minuten der Kopf raucht. Dagegen konnte man den verwirrenden Rückwärtsbewegungen in der Zeit in seinem Spionagethriller „Tenet“ selbst im Halbschlaf noch besser folgen.
Komplexität gehört bei Nolan natürlich zum Programm, ist so etwas wie seine Spezialität und längst zum Markenzeichen seiner Inszenierungen geworden. Dazu kommen eine offensiv vorgetragene Leidenschaft für die Wissenschaft - vor allem die Physik - sowie eine fast schon sakrale Faszination für die Zeit. All seine Helden, ob der düstere Comic-Vigilant Batman („Dark Knight“-Trilogie), der getriebene Traumreisende Dominick Cobb („Inception“, 2010), der traumatisierte NASA-Pilot Cooper („Interstellar“, 2014) oder der namenlose Agenten-Protagonist in „Tenet“ (2020) beweegen sich innerhalb dieser Trinität. Da ist es wenig überraschend, dass davon auch J. Robert Oppenheimer nicht verschont bleiben darf, historische Figur hin oder her.
Und so gibt es reihenweise Zeitsprünge - selbst innerhalb dialogischer Szenen-, ein Stakkato-artiges Erzähltempo sowie einen bewussten Verzicht auf Erklärungen historischer Zusammenhänge oder Hintergründe. Die Arroganz des unfehlbaren Visionärs? Dass praktisch nichts an physischer Aktion stattfindet, wird so geschickt verschleiert, aber zu welchem Preis? Wer nicht einigermaßen mit der Materie vertraut ist, wird es nach dem Filmbesuch garantiert ebenfalls nicht sein (studierte und Hobby-Historiker ausgenommen). Von den mindestens zwei Dutzend auftretenden Sprechrollen wird kaum eine in Erinnerung bleiben (einzige Ausnahmen sind die grandios aufspielenden Matt Damon und Robert Downey Jr.). Das Bombardement an Argumenten, Phrasen, Meinungen, Haltungen etc. zerschellt nach kurzer Zeit an der Aufmerksamkeitsmauer selbst des interessiertesten Zuschauers und weicht einem Brummkreiselgefühl wie man es von Jahrmarktsattraktionen kennt.
Nolan, der Schausteller, eine durchaus passende Allegorie. Täuschen und Tricksen sowie die Illusion waren ja auch schon Themen in einem seiner besten Filme, dem Zaubererdrama „Prestige“. Bei „Oppenheimer“ sind diese Tricks aber nicht dramaturgisch motiviert, sondern vielmehr Ausdruck einer zunehmenden Manieriertheit des Nolanschen Filmzauberkastens. Er wird damit praktisch zur Karikatur seiner selbst. Denn wenn sich der ganze Rauch der vielen Star-Cameos (wenn Nolan ruft, würden viele nach eigenem Bekunden auch umsonst spielen), der kunstvoll montierten Szenen, des Sperrfeuers geistreicher Dialogsalven und der unheilvoll wummernden Klänge Ludwig Göranssons gelegt hat, fragt man sich, was Nolan hier eigentlich erzählen wollte. Vor allem aber fragt man sich, ob dafür nicht das fünfminütige Studium des entsprechenden Wiki-Artikels genügt hätte.
Gut, was den Protagonisten betrifft auf jeden Fall. Obwohl Cillian Murphy in fast jeder Szene in Großaufnahme zu sehen ist, dazu auch permanent spricht, erfährt man sehr wenig über den vermeintlich zerrissenen Charakter J. Robert Oppenheimers. Dass der Mann im Nachgang mit den monströsen Auswirkungen seiner Arbeit haderte, ist bekannt. Dass er in den 1950er Jahren in den Strudel der Kommunistenhatz des senatorischen Inquisitors McCarthy geriet ebenfalls. Aber was ihn antrieb, umtrieb oder aus dem Rampenlicht vertrieb, bleibt ebenso nebulös wie seine privaten oder politischen Ansichten. Irgendwann wird er mal von jemand als Frauenheld beschrieben, aber in keiner der Szenen mit den blass bleibenden Frauen in seinem Leben (Emily Blunt als Ehefrau und Florence Pugh als Geliebte) wird diese Aussage mit Leben gefüllt. Und obwohl die von seinem Erzfeind Lewis Strauss inszenierte Demontage mittels eines geheimen Ausschusses die zentrale Klammer der erzählten Handlung bildet, bleiben Oppenheimers patriotische Gesinnung und gepeinigte Seele bloße Behauptungen.
Nolan hat unlängst in einem Interview beklagt, dass sich das heutige Kino bzw. seine Rezeption viel zu sehr auf Handlung und ihre Plausibilität fokussieren und damit die eigentlichen Stärken des Mediums, namentlich seine audiovisuelle Kraft, zu wenig Beachtung finden. Ironischerweise - oder geschickterweise, je nach Sichtweise - hat er damit auch gleich sein neustes Werk geadelt. Der dauerwummernde Score, die epischen IMAX-Kamerashots von und um Los Alamos sowie die bewusst gehetzte Schnitttechnik stehen im starken Kontrast zu einer simplen Biographienacherzählung, deren Oberflächlichkeit und Episodenhaftigkeit durch ihre mikadoartige Anordnung einigermaßen clever kaschiert werden. Beschweren sollte sich Nolan angesichts des enormen Starterfolgs seines Films also besser nicht. Schließlich sitzt er wieder einmal im, wenn auch kunstvoll erbauten Glashaus.
Dennoch muss man den Hut vor ihm ziehen. Wer sonst hätte es geschafft, ein erzählerisch enervierend dünnes, dazu verwirrend arrangiertes Biopic über einen weltweit gar nicht so bekannten Wissenschaftler zu drehen und dafür nicht nur 100 Millionen Dollar Budget plus dieselbe Summe für Marketingkosten einzufordern sowie namhafte Mimen wie Kenneth Branagh, Rami Malek, Casey Affleck oder Gary Oldman für Kleinstauftritte zu motivieren, sondern auch noch den IMAX-Kinos ein dreiwöchiges Exklusivrecht aufzuzwingen. Das ist Macht. Und der Erfolg gibt ihm recht. Ob es an der genialen Marketingidee lag das Hype-Event „Barbie“ nutzbar zu machen und die an sich völlig unterschiedlichen Filme als Barbenheimer-Duo zu bewerben, oder ob die angesichts des Ukraine-Krieges wieder aufgeflammte Angst vor einem Atomkrieg die Aktualität des Films schlagartig erhöhte, jedenfalls rauschte das sperrige und wenig zugängliche Herzensprojekt zum besten Start eines Nolan-Films nach seinen beiden Batman-Sequels. Das Kino ist also allen Unkenrufen zum Trotz noch nicht tot. Auch wenn der gefeierte Guru und Kinomagier der Stunde zumindest in diesem Fall mit viel Lärm um nichts reüssiert.