Wenn man schon bei James Cameron klaut, dann so!
Von Lutz GranertScheinbar hat die derzeit viel beschäftigte Jennifer Lopez, die erst im Februar mit „This Is Me... Now“ ein neues RnB-Album veröffentlichte, mit ihrer Rolle als eiskalte Profikillerin, die sich ihrer verdrängten Muttergefühle entsinnt, einen Nerv getroffen: Satte 250 Millionen Stunden wurde „The Mother“ von Regisseurin Niki Caro im Jahr 2023 gestreamt: Platz 14 der meistgesehenen Netflix-Originalfilme überhaupt! Der Action-Thriller ist Teil eines mehrjährigen Deals von Lopez’ Produktionsfirma Nuyorican Productions mit dem Streamingdienst, der u. a. dabei helfen soll, Regisseurinnen, Autorinnen und Schauspielerinnen zu mehr Präsenz zu verhelfen. Ein Anliegen, auf das sicherlich auch „Atlas“ einzahlen wird.
Einen Superlativ hat der Film jetzt schon sicher, schließlich ist die mit zahlreichen Schauwerten auftrumpfende Science-Fiction-Action mit einem Produktionsbudget jenseits von 100 Millionen Dollar die bis dato teuerste Netflix-Eigenproduktion mit einer weiblichen Hauptdarstellerin. Ein paar weitere Rekorde könnten womöglich noch dazukommen. Immerhin entfacht der Spektakel-erfahrene „San Andreas“- und „Rampage“-Regisseur Brad Peyton erneut ein beeindruckendes Effekt-Brimborium, das trotz offensichtlicher Anleihen bei modernen Genre-Klassikern ganz hervorragend unterhält – woran auch die von Lopez verkörperte Heldinnenfigur einen entscheidenden Anteil hat.
In der Zukunft haben mit Künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter ein eigenes Bewusstsein entwickelt. Unter Führung des KI-Terroristen Harlan Shepherd (Simu Liu) haben sie ihren menschlichen Schöpfer*innen den Krieg erklärt. Nach Gründung einer internationalen Allianz gelingt es der Menschheit, Harlans Truppen zurückzudrängen – bis dieser, nicht ohne grausame Rache zu schwören, in einer Rakete mit unbekanntem Ziel in den Weltraum flieht. 28 Jahre später gelingt es der KI-Forscherin und Analystin Atlas Shepherd (Jennifer Lopez), dem gefassten Harlan-Handlanger Casca Decius (Abraham Popoola) zu entlocken, dass sich sein Boss auf dem lebensfeindlichen Planeten GR-39 aufhält.
Zusammen mit einer Militäreinheit unter Führung von Colonel Elias Banks (Sterling K. Brown) und den ebenfalls mit KI ausgestatteten Robotern der ARC9-Reihe, die über Neurallinks mit ihren menschlichen Nutzern verschmelzen, fliegen sie los, um Harlan endgültig zu vernichten. Doch die Mission gerät zum Himmelfahrtskommando – und so ist es an Atlas und ihrem ARC9, die von Harlan angestrebte Auslöschung der Menschheit doch noch abzuwenden…
Drehbuchautor Aron Eli Coleite („Star Trek: Discovery“), der einen ursprünglichen ersten Entwurf seines Kollegen Leo Sardarian weiter ausgearbeitet hat, schielt nicht nur in Richtung der Genre-Klassiker von James Cameron – er schaut sich auch ordentlich was bei ihnen ab: Eine amoklaufende KI mit eigenen Produktionshallen und anthropomorphen Erfüllungsgehilfen kennt man bereits aus der „Terminator“-Reihe. Bei der selbstbewusst-kantigen Heldin, die in einem Roboter gegen ihre Widersacher kämpft, werden unterdessen Erinnerungen an das spektakuläre Finale aus „Aliens: Die Rückkehr“ (1986) wach, in dem Sigourney Weaver als Ellen Ripley auf ihrem Laderoboter im Frachtraum mit der Alien-Königin ringt.
Und wenn Atlas beim Herumstolpern über den fremden Planeten versehentlich eine Blume berührt, die daraufhin zu glühen beginnt, könnte man fast glauben, sie wäre auf ihrem Flug ins All versehentlich falsch abgebogen und statt auf GR-39 versehentlich auf Pandora gelandet. Bis hierhin klingt das mit Zitaten des Robotik-Pioniers Isaac Asimov sowie einer gehörigen Portion Baller-Action gepimpte Szenario erst einmal wenig inspiriert – selbst wenn die CGI-Effekte, vor allem beim doppelt zu verstehenden worldbuilding auf GR-39, wirklich hervorragend gelungen sind.
Entscheidend ist jedoch ein Kniff beim Fokus der Erzählung, mit dem „Atlas“ dem Genre tatsächlich neue Aspekte abringt. Denn im Zentrum stehen die titelgebenden KI-Skeptikerin und die Smith getaufte KI, die als Gesprächspartner, Raumkapsel, Exoskelett, Panzer, hochgerüstetes Waffensystem und – bei Bedarf – erweitertes Gehirn zugleich fungiert. Im Dialog mit dem Roboter, der bei neuronaler Vernetzung und Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine ebenso verführerische wie gefährliche Möglichkeiten bietet, wird eine ganze ethische Technikdebatte durchaus kritisch durchexerziert.
Jennifer Lopez legt dabei ihre Figur fernab eines Ripley-Abklatsches sehr emotional an – durchlebt und durchleidet von purer Verzweiflung bis hin zu siegessicherer Euphorie so ziemlich jeden Gefühlszustand. Dabei kommen auch humoristische Auflockerungen nicht zu kurz, wenn Smith ausgerechnet beim Verarzten eines schmerzhaften Schienbeinbruchs plötzlich Sarkasmus für sich entdeckt – schließlich muss sich die selbstlernende KI erst einmal auf den Humor des menschlichen Gegenübers einstellen.
Atlas und Smith stapfen und fliegen einmal quer über den exotischen Planeten mit schroffer Berglandschaft und farbenfroher Pflanzenwelt – und führen dabei durchaus kurzweilige Dialoge. Kein Wunder also, dass die anderen Darsteller*innen in ihrem Schatten etwas zu kurz kommen: Simu Liu („Arthur der Große“) gibt eiskalt den diabolischen Fiesling – gerade in jenen Szenen, in denen er sich durch menschliche Augen hindurch gewünschte Informationen direkt aus dem Gedächtnis seiner Gegenüber holt. Mark Strong, dessen Part genauso klein ausfällt wie als gebrochenes Familienoberhaupt in „The End We Start From“, ist als sympathischer Militär ebenfalls nur wenige Momente vergönnt.
Fazit: Die vor allem aus James-Cameron-Blockbustern bekannten Plot-Versatzstücke werden in „Atlas“ auf erfrischende Weise neu zusammengesetzt. Die kurzweilige Science-Fiction-Action besticht mit beeindruckenden CGI-Effekten und einer facettenreich agierenden Jennifer Lopez, die nach „The Mother“ auch in ihrer nächsten Netflix-Produktion eine starke Identifikationsfigur verkörpert.