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    Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten
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    FILMGENUSS
    FILMGENUSS

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    4,0
    Veröffentlicht am 25. August 2023
    LAND DER BEGRENZTEN MÖGLICHKEITEN

    Die Welt ist am Arsch. Mit diesen Worten will das Baby wieder zurück in den Schoß seiner Mutter. Mateo wird nie seinen ersten Geburtstag erleben – der Tod des Neugeborenen wird als Trauerkloß dem Protagonisten Silverio andauernd vor die Füße rollen. Mit surrealen Szenen wie diese, wenn die meterlange Nabelschnur die Mutter nicht gehen lässt und wenn das Neugeborene zurück in die Vagina dringt, beginnt eine fremdartige, groteske und impressive Reise in eine autobiographisch gefärbte Vergangenheit des mexikanischen Oscar-Preisträgers Alejandro Gonzáles Iñárritu. Spätestens seit seinem Abenteuerdrama The Revenant – Der Rückkehrer und seiner nicht weniger surrealen Ego-Komödie Birdman kennt ihn jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung vom Kino hat. Iñárritu ist Autorenfilmer durch und durch. Biutiful ist meines Erachtens sein bestes Werk. Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten reicht nahe an ihn heran, bleibt aber viel mehr auf Distanz und genießt es geradezu, seinem Publikum mancherorts fremd zu bleiben. Bardo befragt das Gewissen von Iñárritus Alter Ego, stochert in seinem Unterbewusstsein, lässt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jenseits allen chronologischen Verständnisses insofern verschmelzen, dass die Figur des Silverio die Gabe besitzt, in die Zukunft zu visionieren und mit den Erinnerungen an seine fiktiven Werke in die Vergangenheit einzutauchen.

    Die wirkliche Meisterleistung von Bardo ist die Magie, die entsteht, wenn Realität und Vorstellungskraft einander aufheben. Wenn beide Bewusstseinsformen ihre Plätze tauschen, und erst lange Zeit später allerlei daraus entstehende Rätsel ihre Antwort finden, egal, ob richtig oder falsch. Iñárritu lässt niemanden in seinem Krypto-Kaleidoskop dumm sterben. Wenn, dann immer mit Erleuchtung. Und das ist das Schöne an seinem Film.

    Mehr oder weniger steht der Regiemeister selbst im Mittelpunkt. Seine Figur ist, wie bereits erwähnt, ein seit rund 20 Jahren in den Vereinigten Staaten lebender Dokumentarfilmer und Journalist, der allerlei extravagante Werke vollbracht hat, die sich mit der Geschichte seines Heimatlandes Mexiko auseinandergesetzt haben. Sei es die Eroberung Spaniens durch Hernan Cortez oder der Amerikanisch-mexikanische Krieg im 19. Jahrhundert. Silverios Arbeiten sind aufbereitet wie Spielfilme, in denen der Macher selbst als Erzähler und Befrager durch die Epochen dringt, um sich zu vergewissern, ob die Gegenwart aus der Vergangenheit auch wirklich gelernt hat. Vielen stößt das sauer auf, gerade in Mexiko. In Amerika wird er gefeiert und hofiert und sollte demnächst einen bedeutenden Journalistenpreis entgegennehmen. Zuvor allerdings begibt er sich an den Ort seines damaligen Aufbruchs, nach Mexiko City. Wird auch dort gefeiert und zu einer Talkshow geladen, die ihm allerdings Angst macht. Denn was wird das Volk wohl wissen wollen? Würden sie ihm den Verrat seines Landes vorwerfen? Würden sie ihn als Nestbeschmutzer verurteilen? Und wie sieht seine eigene Familie das Euvre seines Schaffens? Sein Lebenswerk? Fragen über Fragen, die sich Silverio selbst stellt. Die sich aus seiner Sicht manifestieren, die ihn quer durch seine Erfolgsstory, aber auch durch seine dunkelsten Stunden geleiten.

    Das kann man langweilig finden, und ich würde es verstehen. Oder man lässt sich drauf ein, lässt sich reinfallen in einen von Darius Khondji wild komponierten Bildersturm aus verzerrten Weitwinkeltableaus, die stets das Gefühl vermitteln, in einer Traumwelt zu sein. Die irreale und die reale Welt entsprechend zu markieren, damit es dem Zuseher vielleicht leichter fällt, die Orientierung zu bewahren – darauf gibt Iñárritu gar nichts. Das Gesamtbild setzt sich am Ende ohnedies zusammen. Den Wagemut also, und die Bereitschaft, den Zuseher zu fordern, auch wenn dieser vielleicht genervt das Handtuch wirft – sind künstlerische Verhaltensweisen, die dem Medium Film seinen Puls geben.

    Was man von Bardo erwarten, wie man es einschätzen kann? Vergleichbar ist der Film mit Paolo Sorrentinos La Grande Belleza – Die große Schönheit. Und tatsächlich haben beide Filmemacher in den subjektiven Beobachtungen ihrer Heimat ähnliche Methoden erarbeitet, um Respekt, Würde, Sehnsucht und Kritik walten zu lassen. So kraftvoll und durchblutet wie La Brande Belleza ist eben auch dieses, mit 2 Stunden und vierzig Minuten deutlich überlange Werk – und auch von daher kein gefälliges Erlebnis, sondern etwas, das sich lustvoll erarbeiten lässt. Dass neugierig macht auf jede nächste Szene, auf jeden nächsten Einfall. Und wieder ist der Traum, statt wie angenommen, doch noch die Wirklichkeit. Lösen sich kryptische Bilder in Erkenntnis auf. Das ist jedes Mal wie Luftholen, bevor man erneut abtaucht.
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    Thomas Z.
    Thomas Z.

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    4,5
    Veröffentlicht am 2. Januar 2023
    "Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten", der neueste Film von Alejandro Gonzáles Iñárritu wird einmal mehr die Gemüter spalten.
    Vorausschicken muss ich, dass mich Werke wie "Babel", "Biutiful", "21 Gramm" und "Birdman" nachhaltig beeindruckt haben, und ich Iñárritu für einen großartigen Regisseur halte.
    Der Totalverriss in der "Filmanalyse" von Wolfgang M. Schmitt, den ich auch sehr schätze, hat mich dann sehr neugierig auf diesen Film gemacht.
    Wie erwartet, beginnt Iñárritu auch trotz neuem Chef-Kameramann (Darius Khondji) bildgewaltig. Da stimmt jede Einstellung bis ins Detail, so als könne man sich ein beliebiges Standbild über das häusliche Sofa hängen. Visuell ist das schlicht und ergreifend große Kunst.
    Inhaltlich hatte ich anfangs so meine Schwierigkeiten, spätestens zu dem Zeitpunkt, wo der neue Erdenbürger keine Lust auf die abgefuckte Welt hatte und zurück in den Mutterleib geschoben wurde. Was folgt, wirkt wie ein surrealer Rausch in dem Realität, Traum, Erinnerung und Dokumentarfilm des Hauptprotagonisten (hervorragend gespielt von Daniel Giménez Cacho) in fiebrigen Bildern miteinander verknotet werden, so dass man auch den Überblick verliert, auf welcher Ebene der Film gerade abläuft. Dass diese Art der Inszenierung Sinn macht und schlussendlich völlig logisch hergeleitet wird, erfährt man erst im beeindruckenden Finale. In der Zwischenzeit wird ein Themenkonglomerat von familiären Beziehungen, schweren Schicksalen, bilateralen Staats- und Wirtschaftsverknüpfungen, Erfolgserwartungen und Versagensängsten, geschichtlichen Hintergründen und, und, und in einem wahren Feuerwerk abgearbeitet. Gelegentlich überschreitet Iñárritu dabei die Kitschgrenze und wirkt prätentiös, auch wenn er eine autobiographische Interpretation des Stoffes weit von sich weist. Dass "Bardo" trotzdem an einigen Ecken eitel und selbstverliebt wirkt, kann man nicht völlig von der Hand weisen, zumal der Look von Cacho, dem von Iñárritu doch sehr ähnelt.
    Unterm Strich ist "Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten" nicht die beste Arbeit von Iñárritu aber trotzdem einer der stärksten Filme aus 2022. Wer den Regisseur mag, kommt auch hier auf seine Kosten. Für andere könnte er zum Hassfilm taugen.
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