David Cronenberg führt den Body-Horror ins App-Zeitalter
Von Christoph Petersen2022 wollte es David Cronenberg nach achtjähriger Regiepause noch mal wissen und drehte mit 79 Jahren eine Science-Fiction-Body-Horror-Dystopie, die es sogar in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes geschafft hat. Aber während „Crimes Of The Future“ auf einem Drehbuch basiert, das schon seit Jahrzehnten in seiner Schublade herumlag, versucht sich Cronenberg in seinem nach eigener Aussage wohl letzten Film noch einmal an einem neuen – und für den Schöpfer so aktuellen wie persönlichen – Stoff: In „The Shrouds“ verarbeitet Cronenberg die jahrelange Trauerarbeit nach dem Tod seiner Frau, der 2017 verstorbenen Filmeditorin Carolyn Zeifman, zu einem Mystery-Drama, das vielversprechend beginnt, aber sich dann zunehmend in einem geschwätzigen, ermüdenden Verschwörungs-Wirrwarr verliert.
Dass Vincent Cassel darin das Alter Ego des Regisseurs verkörpert, zeigt sich schon an der unverkennbaren Frisur – der „Irreversible“-Star würde bei einem David-Cronenberg-Doppelgänger-Wettbewerb sicherlich einen respektablen Platz belegen. Der Name der Figur ist Karsh, ein Unternehmer, der sich seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren auf Friedhofstechnik spezialisiert hat. Mit der Entwicklung des titelgebenden Hightech-Leichentuchs, das zahllose eingewobene Kameras mit Röntgen- und MRT-Technik verbindet, ist es Angehörigen fortan möglich, ihren Geliebten auch nach der Beerdigung noch weiter in 8K-Auflösung beim Verwesen zuzuschauen. Das funktioniert entweder auf einem am Grabstein angebrachten Monitor oder einfach von Zuhause aus praktisch per App.
Nun muss man diese Technik ja auch dem Kinopublikum erklären – und es wäre ein Leichtes gewesen, Karsh zu Beginn des Films einfach einen Vortrag vor potenziellen Investor*innen halten zu lassen. Aber Cronenberg zelebriert in seinem Skript lieber einen trocken-morbiden Humor, wenn er seinen Protagonisten all die Vorteile des Verwesung-Live-Feeds stattdessen bei einem von seinem Zahnarzt vermittelten Blind Date erzählen lässt. Ein starker und angesichts der schweren Thematik erstaunlich lustiger Auftakt, nach dem sich direkt ein paar offensichtliche Fragen stellen: Gibt es wirklich einen Markt dafür? Und gäbe es für die Shroud-Technik, die in Echtzeit alle Körperschichten ultrahochaufgelöst abbilden kann, nicht sehr viel offensichtlichere und lukrativere Anwendungsgebiete, etwa in der Medizin?
Aber für die reale Welt interessiert sich Cronenberg nicht – und das ist auch gut so: Die Technik ist eine Metapher für den von Anfang an zum Scheitern verurteilten Versuch der Hauptfigur, doch noch irgendwie den Tod seiner Frau und das Verlangen nach ihrem am Ende vom Krebs regelrecht zerfressenen Körper zu verarbeiten. Immer wieder gibt es Traumsequenzen, in denen seine tote Frau Becca (Diane Kruger) zu Karsh ins Schlafzimmer kommt, und jedes Mal hat der Arzt noch etwas weggeschnitten oder herausoperiert: die linke Brust, den linken Arm, ein Schlüsselbein. Bei so vielen fehlenden Teilen fällt es plötzlich schwer, das Gleichgewicht zu halten – und beim imaginierten Sex bricht dann auch noch die Hüfte entzwei.
Sein nerdiger Schwippschwager Maury (Guy Pearce) hat nicht nur bei der Entwicklung der Shroud-Technologie mitgeholfen, er hat extra für Karsh auch eine eigene K.I. namens Hunny entwickelt, eine Art Zukunfts-Siri mit einem Avatar, der in seiner grob animierten Niedlichkeit an Nintendo-Videospiele erinnert. Hunny weiß immer, was Karsh will – und hat deshalb nicht nur die Stimme, sondern auch das Aussehen seiner toten Frau angenommen. Wobei die K.I. in letzter Zeit immer mal wieder versucht, Karsh mit einem Wechsel zu einem Pandabär-Avatar aufzuheitern.
So überführt Cronenberg seine Markenzeichen, den Body Horror, für den er seit Filmen wie „Rabid“, „Die Fliege“ oder „Die Unzertrennlichen“ berühmt-berüchtigt ist, zum Abschluss seiner Karriere noch einmal in ein neues Medium: Denn irgendwann zeigt auch der K.I.-Avatar, der genauso gut auch aus dem Niedlichkeits-Overkill „Animal Crossing“ stammen könnte, die Amputationen und Vernarbungen ihres verstorbenen Vorbilds. Während ich das jetzt hier so schreibe (und wahrscheinlich geht es euch beim Lesen kaum anders), stellt man sich natürlich schon die Frage: Das klingt doch alles total super – warum also trotzdem nur enttäuschende 2,5 Sterne?
Nachdem die Technologie an sich nach etwa einer Viertelstunde etabliert ist, beginnt der eigentliche Plot. Der Hightech-Friedhof wird verwüstet – und ein Hackerteam sperrt Karsh aus seinem eigenen System aus. Aber was hat es mit der Attacke auf sich? Geht es um Erpressung? Stecken religiöse Fanatiker*innen dahinter? Was haben womöglich die Russen und die Chinesen und die – in dieser Aufzählung sicherlich überraschenden – Isländer damit zu tun? „The Shrouds“ wandelt sich zu einem spionagefilmartigen Verschwörungstheorien-Overkill, was vor allem Karshs Schwägerin Terry (ebenfalls Diane Kruger in einer Dreifach-Rolle) sehr geil findet, denn die wird bei Konspirationsmythen sofort ganz rallig.
Fürs Publikum ist das allerdings weniger erfreulich: „The Shrouds“ besteht in diesen Passagen nämlich fast ausschließlich aus im Schuss-Gegenschuss-Modus gefilmten, viel zu langen, meist nichtssagenden und schrecklich öden Dialogen, die zunehmend im Nichts verlaufen. Wenn man jetzt wie ich am nächsten Morgen mit einem Kaffee am Schreibtisch sitzt, dann könnte es leicht passieren, dass einem nur noch all die coolen Ideen des Films im Kopf herumspuken. Aber dann muss man sich eben zwingen, daran zurückzudenken, was für eine langweilige Qual es mitunter war, das einfallslos gefilmte, teils nicht mal gut gespielte Geschwätz durchzustehen. So leid es mir tut: Trotz der extrem persönlichen Momente in „The Shrouds“ wäre „Crimes Of The Future“ ein würdigerer Abschied für einen der ganz Großen des Horror-Kinos gewesen.
Fazit: Sein letzter Film ist womöglich auch sein persönlichster. David Cronenberg hat nach dem Tod seiner Frau offensichtlich viel über das Sterben nachgedacht – und „The Shrouds“ ist immer dann stark, wenn er die totale Orientierungslosigkeit seines trauernden Protagonisten einfängt. Leider verliert sich der Film aber schnell in einem nichtssagenden Verschwörungs-Verwirrspiel. Das Ergebnis ist eine Ansammlung überlanger Dialogszenen, die kaum mehr produzieren als einen Haufen – entschuldigt das Friedhofswortspiel – lebloser Bilder.
Wir haben „The Shrouds“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.