Vergleichendes Sehen - Eine (unvollendete) Geschichte über das Medium Kino
Vorab ein Hinweis: ungeachtet der hier abgegebenen Einordnung dessen, was gesehen wurde, empfehle ich dennoch das Anschauen des Teil II von Joker, denn auch misslungene Filmkunst gehört in die Rezeption von Filmgeschichte.
Insbesondere deswegen, da der erste Teil von 2019 außerordentlich gelungen war.
Nun zur Kritik:
Eine Reise durch cineastische Narrative zurück auf Anfang macht die Gegenwart nicht ungeschehen!
Doch dieser Gedanke einer anzustrebenden Rückabwicklung jener ambivalenten Figur Joker scheint hinter der gesamten Produktion von "Joker: Folie à Deux" permanent hindurch.
Joker II ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Joker aus dem Jahr 2019!
Dies beginnt in der lieblosen Zusammenstellung der Filmmusik, denn obwohl mit der preisgekrönten Komponistin Hildur Gudnadottir geworben wird, scheint sie keine neuen Kompositionen für Teil II erschaffen zu haben, stattdessen werden nur wenige Auszüge des Scores aus Teil I wiederholt.
Es geht weiter mit einem Drehbuch, welches in der Zeichnung der Filmfigur Joker dem Anti - Helden Sätze in den Mund legt, die in keiner Weise mit der Figur aus Teil I in Zusammenhang stehen und daher nicht für eine Fortsetzung, sondern für den Versuch einer inhaltlichen Rückabwicklung der Persona hinter Arthur Fleck stehen.
Tragisch ist auch die verschenkte Chance das tänzerische Talent und die Improvisation des Charakterdarstellers Joaquin Phoenix hervorzuheben, da sein Tanz auf eine Art Musicalverschnitt reduziert wurde und damit wiederum eine inhaltliche Einhegung erfuhr.
Wenn man verstehen möchte, was die zahlreichen Gründe für die Genialität von Teil I waren, so muss man unter anderem auf den improvisierten Tanz von Joaquin Phoenix verweisen - der anders als in Teil II - nicht in der Phantasie, sondern in den unwahrscheinlichsten Augenblicken realer Bedrohung für die Figur des Joker stattfand und somit den subversiven Charakter dieser Filmfigur hervorhob und darin zugleich eine Verbindung zu der Subversion der Comic - Figur Joker neu interpretierte.
Als wäre das alles nicht schlimm genug, erweist sich Lady Gaga - trotz ihres breit aufgestellten Talents und dies auch als Schauspielerin - als vollkommene Fehlbesetzung!
Die Kunstfigur Lady Gaga ist medial omnipräsent, zu präsent, um in diesem Film vergessen zu werden.
Dies hat den Effekt, dass in den Szenen, wo Lady Gaga ungeschminkt zu sehen ist, sie in Wahrheit "maskiert" wirkt und nicht wie Arthur Fleck pur und natürlich.
Ist sie hingegen geschminkt zu sehen, wirkt sie "natürlich", denn dies macht die Kunstfigur Lady Gaga aus.
Wenn der Schauspieler Joaquin Phoenix davon spricht, dass er sich von Lady Gaga eingeschüchtert gefühlt hat, lässt sich dies sogar aus diesem Zusammenhang heraus logisch begründen, denn es hätte um eine Fortführung der erweiterten Perspektive auf Joker gehen sollen und nicht darum, Lady Gaga in den Kontext von Maskierung neu zu deuten.
Getreu dem Credo "schlimmer geht immer", wurde die Rahmenhandlung abwechselnd in ein Gefängnis und ein Gericht platziert.
Ein kammerspielartiges Szenario für diese Fortsetzung, die nichts fortsetzt, aber symbolisch für die Engführung der Regie basierten Perspektive in Teil II steht.
Deutlicher kann der Versuch eines Ungeschehen - Machens der Filmproduktion aus 2019 nicht vollzogen werden.
Wenn ausgerechnet die junge Figur des Staatsanwaltes an die ersten 3 Opfer von Joker aus Teil I erinnert, jene drei Männer, die ihn zuvor verbal und physisch angegriffen haben, macht der Regisseur Todd Philips den Menschen Arthur Fleck erneut zum Opfer und setzt exakt diese Erzählung bis zum erwartbaren Ende konsequent fort.
Ein Effekt dieser erzählerischen Einhegung, Umdeutung und Überschreibung ist der Zerfall von Teil II in unzählige Einzelszenen, wo ein Joaquin Phoenix als Schauspieler noch immer eine sehr gute Leistung abliefert, aber irgenwie verloren wirkt in seinem Spiel.
Es fehlt der Gegenpart.
Durch den kompletten Film hindurch.
Dies hat auch damit zu tun, dass die ihm durch die Drehbuchautoren Todd Phillips und Scott Silver in den Mund gelegten Worte in keiner Weise zu der Vorgeschichte und dem Charakter der gespielten Figur Arthur Fleck aus 2019 passen.
Das heißt der zweite Film zu Joker zerfällt nicht nur in seine einzelnen Sequenzen, er unterlässt es in seiner Perspektive auch nicht, eine latente Verachtung für die Filmfigur Arthur Fleck / Joker zum Ausdruck zu bringen.
So wird plötzlich Arthur Fleck eine verminderte Intelligenz zugeschrieben, was überhaupt nicht zu der Reflexion und Klarheit des Arthur Fleck in Teil I passt.
Zur Erklärung:
Im ersten Teil zu Joker, der global ein unglaublicher Erfolg war und sogar im arabischen Raum eine große Fangemeinde um sich scharen konnte, war es gerade die Komplexität und Widersprüchlichkeit seiner Figur, welche ihn für zahlreiche Spektren aller politisch Unzufriedenen als Identifikationsfigur sichtbar werden ließ.
Vor dem Hintergrund der MeToo - Bewegung wurde in Teil I der Blick im Bereich sexualisierter Gewalt auf Jungen erweitert, die ebenso wie Mädchen Opfer sein können.
Es lag daher sogar etwas emanzipatorisches in der Tatsache, dass ein Mann mit unbehandelter komplexer postraumatischer Belastungsstörung die Hauptfigur eines Kinofilms sein durfte und seine Erfahrung von Ohnmacht nie in Verbindung standen mit einer erzählerischen Respektlosigkeit gegenüber dieser Filmfigur.
Anders in Teil II, indem über all das emanzipatorische hinweg getanzt wird und der Charakter Arthur Fleck daher plötzlich die Projektionen von rechten Kreisen mit Hang zur Misogynie zu unterstützen hat.
Wenn all das Tanzen die Phantasie des Arthur Fleck war, dann sind es vielleicht auch die Frauen, welche in Teil II alle als negative und gehässige Zerrbilder gezeigt werden.
Zugleich liegt darin vielleicht aber auch eine Hoffnung, denn wenn nichts Sinn ergibt und vor allem nicht zu der Figur des Arthur Fleck aus Teil I passt, besteht die Chance einen Teil III zu gestalten, wo man der Geschichte der Figur Joker wieder mit Würde und echtem Interesse begegnet!
In einem solchen Wunsch - Szenario würde Arthur Fleck in der Forensik aufwachen, die wir am Ende von Teil I sehen und es würde sich der komplette Teil II als Traum verflüchtigen und damit auch erklären, weswegen die Gesamtheit aller Szenen nicht wirklich eine kohärente Erzählung verkörpern.
Warum darf Arthur Fleck / Joker nicht auf diese Art und Weise enden?
Joaquin Phoenix hat viele Rollen mit Bravour und Seele gespielt, aber keine war so nah an unserer globalen Gegenwart wie die Figur des Arthur Fleck / Joker aus 2019.
Aufgrund der global neoliberalen Neuausrichtung von Wirtschaft, worin eigentlich nur noch private Akteure und damit Rendite eine priorisierende Rolle spielen und auch in Deutschland mit der Agenda 2010 staatliche Verantwortung auf individuelle Menschen ohne Einfluss auf makroökonomische Entwicklungen externalisiert wurde, kam es in allen westlichen Gesellschaften zu einer Erosion der Mittelschicht und hoher sozioökonomischer Ungleichheit.
Kamala Harris hat in ihrer Antrittsrede als Kandidatin für die Democrats 2024 nicht ohne Grund die Not der Middle Class erwähnt.
Auch in Deutschland existiert für einen Teil der Mittelschicht eine vollständig veränderte Lebensrealität.
Viele Menschen, welche noch in den 90er Jahren der unteren Mittelschicht angehörten, existieren in der Gegenwart im Prekariat.
Dies bedeutet nicht nur monetäre Not, sondern - was noch weitaus schwerer wiegt! - Prekarisierung von Recht.
In der medialen Debatte aus Politik und Medien werden mehrheitlich Zerrbilder von Armut gezeigt, die für Desinformation und Diskreditierung, aber nicht für Aufklärung und politischen Diskurs stehen.
Daher ist ein Aspekt der Armut im neuen Jahrtausend die beständige Erfahrung von sozialer, psychischer und physischer Gewalt.
Während Menschen ohne Kenntnis dieser Entwicklung davon nichts wissen (wollen), war in Joker aus 2019 nicht nur Spannung, sondern Spiegelung der Komplexität von Armut in neoliberaler Ausprägung plötzlich für jeden Menschen visuell nachzuerleben.
Dieser Film leistete mehr Aufklärung zu Armut - auch in Europa und insbesondere Deutschland - als alle Talkshows der letzten zwei Jahrzehnte zusammen!
Die fehlende mediale Transparenz struktureller Armut hat mit Sozialpsychologie zu tun und mit dem zunehmenden Einfluss der "Superreichen".
Stichwort: Stiftungen.
Es existiert in der Ökonomie für Ungleichheit die Kategorie des Gini - Koeffezienten für Einkommen und für Vermögen.
Im Bezug auf die Vermögensungleichheit steht Deutschland mit dem Wert 0,77 auf einer Ebene mit Mexiko.
Zur Orientierung:
Der höchste Wert an Ungleichheit wird mit 1 angesetzt.
Ursachen für diese Entwicklung ist unter anderem die Arbeitsmarktreform von 2003, wo in Deutschland für Menschen im Status von Erwerbslosigkeit ein Existenzminimum erschaffen wurde, welches so errechnet wird, dass der Mangel die Not aufrecht erhält und so als "Anreiz" für Erwerbsarbeit zählt, als gäbe es keine strukturelle Erwerbslosigkeit.
Zugleich existiert in unserer Gegenwart in Deutschland für Menschen, welche Millionen zu vererben haben, eine "Verschonungsbedarfsprüfung" die es ermöglicht, dass Millionen vererbt werden können, ohne dass hierfür der Steuersatz gilt, der für Menschen der Mittelschicht gilt.
Darüber wird mehrheitlich nicht geschrieben und gesprochen.
Aktuell existieren laut Manager Magazin daher alleine in Deutschland 249 Milliardäre.
Doch statt darüber kritisch und öffentlich zu debattieren, werden viel lieber Lügen über das SGB II / Bürgergeld verbreitet.
Scheindebatten als Aspekt realpolitischer Verantwortungsumkehr.
Es liegen der hohen sozioökonomischen Ungleichheit also komplexe Entwicklungen zugrunde und von einem Kinofilm mit fiktiver Figur ist nicht die sachdienliche Lösung all dieser normativen Fehlentwicklungen zu erwarten, aber was sich erhoffen lässt, ist eine schlüssige Erzählung mit glaubwürdiger Charakterzeichnung und dies bitte auch noch mit einer Liebe zum Medium Kino, denn auch diese Branche erlebt seit Jahren eine tiefe Krise!
All das war Joker aus dem Jahr 2019 und all das ist Joker II von 2024 nicht.
Vermutlich hat Todd Phillips Angst vor seiner eigenen Courage und Filmfigur entwickelt, denn natürlich erinnern Szenen aus Joker 2019 an den Sturm auf den Reichstag in Berlin 2020 und den Sturm auf das Kapitol 2021.
Allerdings überschätzt man Filme, wenn man glaubt darin läge Inspiration für wahre Gewalttaten.
Fiktion ist Fiktion und für die Mehrheit aller Rezipienten auch in ihrer Fiktionalität sichtbar, selbst wenn es Schnittstellen zu diversen Formen von Lebensrealität gibt.
Joker 2019 war eher eine Art Erahnung von Zukunft, so wie in American Beauty von Sam Mendes die Immobilienkrise der USA vorhergesehen wurde oder Matrix etwas über Gesellschaften erzählt, welche sich im Streit wiederstrebender Wirklichkeiten befinden, wie wir es seit Existenz und Nutzung von Social Media, insbesoindere von algorithmisch kuratierter Social Media erleben.
Es gibt Filme, welche ihrer Zeit vorauseilen und Joker aus 2019 steht und stand damit nicht alleine.
Aber Joker der Fassung 2019 steht nun im Abseits, dank eines undankbaren durch seine Filmfigur reich gewordenen Menschen namens Todd Phillips.
Wie in "Megalopolis" von Francis Ford Coppola oder dem Remake von "The Crow" - zu verantworten von Rupert Sanders - scheint die filmische Wirklichkeit nur noch die Lebensrealität der Personen aus der Kategorie Überreichtum visualisieren zu wollen.
Ist dies die einzige cineastische Antwort von Filmkünstlern auf eine real aus den Fugen geratene Welt?
Joker II ist also eine Filmproduktion, die als Fortsetzung des herausragenden Teil I aus 2019 gestartet ist und sich real als Remake mit dem identischen Hauptdarsteller entpuppt.
Alles was an Joker 2019 innovativ, überraschend und kohaerent in der Aufbau der Figur Arthur Fleck war, wird in Teil II inhaltlich überschrieben.
Diese Überschreibung wurde dabei so angelegt, als sei es eine nachträgliche Zurücknahme der Story voller Ambiguität aus Teil I hin zu einer Geschichte um eine Figur ohne Verbindung nach innen und nach außen.
Das Leid des Arthur Fleck als eine Projektionsflaeche für sehr verschiedene Menschen, welche seit den Nuller-Jahren soziale Segregation erfahren, wird in Teil II nicht nur nicht mehr geachtet, sondern nahezu in die Lächerlichkeit verschoben.
Wenn in Teil II immer wieder die Persona Joker mit Verweis auf den gelungenen Film ueber sein Leben neu beschworen werden soll, ist auf einer zweiten Ebene der Bezug zu der Kinoproduktion aus 2019 hergestellt und indem Arthur Fleck nun nicht mehr die Erwartungen von der weiblichen Antagonistin - gespielt von Lady Gaga - zu erfüllen scheint, wirkt es so als wolle Todd Phillips uns als Zuschauer Joker auf allen Ebenen im positiven Sinne aus den Gedanken treiben.
Es fehlt an jeglichem Respekt vor dem Themenkomplex Armut, Gewalt, soziale Ungleichheit und damit all das, was Teil I grandios sein ließ.
Ein Regisseur verdient sehr viel Geld mit einem Film ueber die Phasen politischer Radikalisierung und Formen sozialer Ungleichheit und dreht eine Fortsetzung als Remake des ersten Teils mit dem vorhersehbaren Verlust von sehr viel Produktionskosten.
Das ist nicht einmal unfreiwillig komisch!
Zu verstehen ist das Verschenken der Story voller Potentiale zu dieser ursprünglich komplexen Figur Arthur Fleck / Joker nicht!
Vor allem zeigt der Regisseur Todd Phillips damit auch mangelnden Respekt vor den Fans von Teil I.
Ich bereue es sehr, diese Filmproduktion gesehen zu haben!