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Filmdoktor
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4,0
Veröffentlicht am 3. November 2020
Das Recht auf Widerstand?! -
Die aus gutem Haus stammende Luisa studiert Jura im ersten Semester. Sie ist alarmiert vom Rechtsruck im Land dem Aufschwung populistischer Parteien. Durch eine Freundin und Studienkommilitonin findet sie Anschluss in einem Hausbesetzerprojekt, das sich neben Sozialinitiativen auch dem (friedlichen?) Kampf gegen Rechts verschrieben hat. Hier trifft Luisa auf Alpha und dessen Freund Lenor: Für die beiden ist auch der Einsatz von Gewalt ein legitimes Mittel, um Widerstand zu leisten: erst fliegen Farbeier bei einer rechten Parteikundgebung (die sehr stark an die AfD erinnert), dann werden bei einer Versammlung von Rechtsextremen deren parkende Autos beschädigt und schließlich sogar auf die Menschen gezielt eingeschlagen. Luisa muss entscheiden, wie weit zu gehen sie bereit ist, wie weit sie sich von ihrer (großbürgerlichen) Familie entfernen und die Grenze zur Kriminalität überschreiten will. Im Jura-Studium wird sie mit dem verfassungsmäßigen Recht auf Widerstand konfrontiert, aber was bedeutet das konkret?
Der Film zeigt ein zentrales Thema aktueller Jugend-Kulturen von innen und spricht die politische Polarisierung ebenso an wie die Parteilichkeit der Polizei, die man mittlerweile nicht mehr mit dem Einzelfall-Argument abstreiten kann. Das gab es seit dem NSU TV-Dreiteiler "Mitten in Deutschland" und „Oi Warning“ so nicht mehr in einem deutschen Film. Die theoretische Ebene, wann ein Recht auf Widerstand greift und wie weit dies geht, wird zwar angesprochen, jedoch inhaltlich nicht vertieft. Der Film bleibt bei den Gefühlen und dem Beziehungsgefüge seiner jugendlichen Hauptdarsteller. Insofern spricht für den Film: Emotional mitreißend, hervorragende Schauspielleistungen, ein sehr aktuelles, politisch brisantes Thema. Als nachteilig erweist sich: Die Komplexität der Thematik kommt wenig in den Blick, da der Film sich ganz Luisas (manchmal recht naiver) Perspektive verschreibt. Wir nehmen als Zuschauer nur das wahr, was sie auch sieht. So gibt es kaum gesellschaftlichen Kontext oder politische Debatte, sondern eben nur die Antifa-Blase, in die Luisa begierig eintaucht. Die Inszenierung ist bis auf einige wenige Szenen Handkamera sehr konventionell, in manchen Teilen auch vorhersehbar (Liebesgeschichte mit Alpha, Krise aufgrund der Gewalterfahrungen).
Die dargestellte Gewalt wird durchaus als ambivalent eingeordnet (vor allem durch die theoretischen Debatten im Jura-Studium) und die zentrale Frage "Darf Gewalt mit Gegengewalt beantwortet werden?" (auch im Sinne des Widerstandsrechts) bleibt offen, insofern regt der Film sehr zur Diskussion an.
"Und morgen die ganze Welt" ist ein von der Autobiografie der Regisseurin Julia von Heinz inspirierter Film über ein aktuelles gesellschaftliches Problem mit einer klaren Position: Jede faschistische und neonazistische Ideologie ist antizivilisatorisch und inhuman, dagegen muss eingeschritten werden. Hervorragende Darsteller und eine konventionelle aber spannende Inszenierung lassen den Betrachter schnell und intensiv eintauchen.
Die Generation, die mit diesem Lied auf den Lippen nach Osten marschiert war, lebt größtenteils schon nicht mehr. Drum sollte man wenigstens noch den Satz vor dem des Titels von Hans Baumann erwähnen: ‘Denn heute gehört uns Deutschland…‘ Julia von Heinz kennt sich aus in der Antifa-Szene. Sie schickt ihre Heldin Luisa (Mala Emde) genau dort hin. Die Jurastudentin aus gutem Hause macht mit Begeisterung bei gewalttätigen Aktionen mit. (‘Faschos vermöbeln!‘). Sie freundet sich mit Alfa (Noah Saavedra) an. Er ist auch das Alpha-Tier der Gruppe, der sagt, wo’s lang geht. Er kundschaftet Gelände und Gebäude aus, plant und bereitet vor. Nach der eingangs geschilderten ideologischen Klopp- und Prügelphase, kristallisieren sich um Luisa und Alfa weitere Figuren: z.B. Lenor (Tonio Schneider). Er ist u.a. der Fotograph der Gruppe, der ihre Einsätze im Bild dokumentiert. Er gehört wie Freundin Batte (L.-C. Gaffron) zur eher gemäßigten Fraktion. Luisas Eltern (Viktoria Trautmannsdorf und Michael Wittenborn) sind eher unpolitisch. Sie verkörpern die Generation, die es zu etwas gebracht hat und den Wohlstand genießt. Ganz wichtig ist Dietmar (Andreas Lust). Er hatte damals sein Medizinstudium abgebrochen, arbeitet jetzt als Pfleger. Kann aber Luisas Fleischwunde behandeln und entpuppt sich als Ersatzvater für die Nachwuchsrevoluzzerin. Er ist schon da, wo die erst noch hinwollen, hat alles schon durchgemacht. Die Mitgliedschaft in der Antifa ist für Luisa ein Coming-Off-Age. Sie macht Erfahrungen, auch erotischer Art, erkennt die Sinnlosigkeit mancher Radikalität und schlägt auf der Suche nach ihrem Weg eine für sie richtige Richtung ein. Welche das im Endeffekt sein könnte, deutet Alfa mal an: nebenbei macht er noch Scheine an der Uni. Regie und Drehbuch sind um Ausgewogenheit bemüht, auch wenn ganz klar ist, wo das Herz der Regisseurin schlägt. Das Triumvirat klaut Sprengstoff und deponiert ihn im Vereinsheim des politischen Gegners. Zündung! Ende! In den ausgiebigen Diskussionen werden zwei Dinge deutlich: die Zerstrittenheit der Linken bezüglich Aktionen und Zielen, sowie die Unfähigkeit kommunikativ ein einheitliches Vorgehen zustande zu bringen. Gelungener Drahtseilakt.