DIE DREIZEHNTE FEE
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
So oft sind Filme vorhersehbar geworden. Selten werden die Erwartungen des Publikums unterwandert, denn das wäre schließlich ein Risiko, welches Zuschauerzahlen kosten und das Box Office einbrechen lassen könnte, würde man routinierte Kinogänger vor den Kopf stoßen. Ein Versuch ist so etwas immer wert, doch bei großen Franchisen bekommen die Verantwortlichen kalte Füße – vor allem, wenn’s um Kino-Releases geht. Bei Independentfilmen ist das anders. Hier wagt man sich freudig aus Glatteis, auf die Gefahr hin, selbst zu straucheln, aber der Ritt über die Ebene war’s wert: The Menu ist so ein Film. Ein Schlittern übers Eis, und während man schlittert, weht der erfrischende Wind des Unerwartbaren ins Gesicht, denn man weiß nie, wann man stürzt oder ob man stürzt oder ob man es bis zur nächsten rutschfesten Gummimatte schafft. Dieser Freude am Probieren stellt sich Regisseur Mark Mylod mit reichlich Hunger für ein mehrgängiges kulinarisches Programm und auch jeder Menge Trinkgeld in der Tasche für die servierende Entourage, die in einem Nobelrestaurant auf einer abgelegenen Insel den Gästen nicht nur die Karte vorliest, sondern auch die Leviten.
Auf dieser Insel herrscht Küchenchef Julian Slowik über eine fanatisch aufkochende Gruppe auserlesener Köchinnen und Köche und kredenzt der gut betuchten Elite ausgefallene Kreationen der Gourmetkunst, verbunden mit theatralischen Elementen und Erzählungen aus den eigenen Biografien. Die Elite selbst ist wild zusammengewürfelt aus Bankern, Lokalkritikerinnen, Möchtegern-Gourmets, affektierten Filmstars oder einfach nur stinkreichen Bonzen, die gar nicht wissen, wofür sie hier ihr Geld ausgeben. Sie alle kommen eines Abends zusammen, und fast sieht es so aus, als eröffnete sich uns ein routinierter Whodunit im Stile eines Agatha Christie-Krimis. Doch wie schon eingangs erwähnt: Nichts ergibt sich so, wie es den Anschein hat. Dieses Spiel mit den Erwartungen torpediert auch die junge Margot (Anja Taylor-Joy), die eigentlich gar nicht hier sein dürfte, denn sie ist der Ersatz für die Begleitung von Nicholas Hoult, der versessen darauf ist, sein Wissen über Kochkunst unter Beweis zu stellen. Margot steht also nicht auf der Gästeliste, ganz so wie die dreizehnte Fee, die dem Gastgeber in die Suppe spuckt. Mit dieser unbekannten Variablen kommt auch der Küchenchef durcheinander, hat der doch den Abend und das mehrgängige Menü penibel geplant, bis auf den letzten Tropfen Emulsion auf dem Experimentierteller. Und was als schickes Erlebnisdinner beginnt, wird schon bald zu etwas ganz Anderem, Verstörendem, zu einem wüsten Happening, das vor nichts zurückschreckt. Außer vielleicht vor Anja Taylor-Joy, die, einmal mehr faszinierend, den ganzen Ist-Zustand hinterfragt.
Nichts wird so heiß gekocht, wie es serviert wird. Hier könnte man den Umkehrschluss ziehen: Nichts wird so heiß serviert, wie es gekocht wird. Denn Ralph Fiennes macht den Abend zur Sternstunde des Unvorhersehbaren, des Herumrätselns, wie es weitergehen könnte, des staunenden Zusehens, was nun als nächstes serviert werden könnte und ob sich die kuriose Wahl an Zutaten noch wilder zusammenmixen lässt. Was anfangs tatsächlich wie eine Satire auf die noblen Künste der Haute Cuisine verstanden werden will, könnte Minuten später ganz anderes Gedeck auf den Tisch drapieren: Vielleicht auch die gallige Kritik an der Heuchelei eines vorgeblich interessierten Establishments, das den Kern der Sache aber längst nicht mehr wertschätzen kann, genauso wenig wie jene, die das Establishment bedienen. Geben und Nehmen wird im selben Topf zu Tode gekocht. Zwischen denen, die eine oberflächliche Gesellschaft füttern, und denen, die den Fraß schlucken, weil sie meinen, die Dinge verstehen zu müssen, gibt es kaum mehr Differenz. Die Autoren Seth Reiss und Will Tracy kreieren einen Lokalbesuch, in welchem der Tischtuch-Trick auch nicht mehr funktioniert, da Tabula rasa gemacht werden muss: Mit der hohlen Existenz der Mächtigen und den verkauften Seelen derer, die diese Mächtigen erst zu dem gemacht haben, was sie sind. Meister und Diener wechseln am Drehtisch die Seiten, mal verleitet der Aberwitz skurriler Szenen zum Lachen, mal bleibt dieses einer Fischgräte gleich im Halse stecken. Mal wird man eingelullt vom jovialen Tonfall eines manisch guten Ralph Fiennes, mal schrickt man aus der Convenience-Blase, wenn dieser zum nächsten Gang klatscht. Zwischen Fiennes und Taylor Joy entspinnt sich ein Duell der erlesensten Sorte. Dieses Duell hält die ganzen 108 Minuten an, ohne durchzuhängen. Um dieses Duell herum bleibt die Spannung straff, und mit dieser Spannung schlägt das Duell als kurios-perfider Mix aus Thriller und Groteske, die längst schon unbequeme gesellschaftskritische Spitzen erreicht wie aus einem Film von Ruben Östlund, in konstanter Intensität in seinen Bann.
Mag sein, dass The Menu manchmal selbst nicht mehr ganz weiß, was es eigentlich ausdrücken will und wohin seine Kritik anbranden soll, doch der Film bleibt ein Faszinosum, mit Leichtigkeit und Spielfreude inszeniert und so unvorhersehbar gut wie ein Dinner in the Dark.
_______________________________________________
Mehr Reviews und Analysen gibt's auf filmgenuss.com!