COUNTRYSONGS AUS DER ARENA
Die eingägige Hymne Nothing You Can Take From Me schmettert West Side Story-Goldkehlchen Rachel Zegler schon zu Beginn des Films in souveräner Profi-Stimmlage dem Fußvolk des zwölften Distrikts ebtgegen. Der Song faucht wie eine Windspitze über die Menschenmenge dahin, die wohl heilfroh sein muss, das sonst keiner aus ihrer Runde zu den zehnten alljährlichen Hungerspielen rekrutiert worden ist. Die durchgeknallte Lucy Gray Baird wird wohl kaum jemand vermissen, doch allesamt, sowohl die im Kapitol als auch jene in den Außenbezirken, werden sich noch wundern, wozu diese zarte, charismatische und hübsch anzusehende Person denn fähig sein wird. Rachel Zegler hat nichts von der panischen Hysterie einer Katniss Everdeen, die andauernd um ihre Familie und Freunde bangen und angesichts tragischer Umstände die Nerven schmeißen wird. Ihr Auftritt wird einige Jahrzehnte später kommen, wenn der alte Diktator Snow, gespielt von Donald Sutherland in distinguierter Bösartigkeit, Jennifer Lawrence zum Hassobjekt auserwählt. In diesem Prequel, das in seiner Epilog-Szene mit der großen Dunkelheit beginnt, die diese alternative Realität eines nordamerikanischen Kontinents beherrschen wird, sind die ersten zehn der aus einer Schnapsidee heraus entstandenen Hungerspiele nicht viel mehr als ein Gladiatorengerangel wie im alten Rom. Gekämpft wird bis zur letzten Frau, bis zum letzten Mädchen, Buben oder Mann. Gefangene werden keine gemacht, und auch wenn die Arena nach einem Rebellenanschlag einem Trümmerfeld gleicht, müssen die Tribute antanzen.
Suzanne Collins selbst hat aufgrund des bahnbrechenden Erfolges ihrer Bücher natürlich eine Vorgeschichte verfassen müssen, einen rund 600 Seiten starken Wälzer, der unter der Regie des Panem-geeichten Francis Lawrence auf zweieinhalb Stunden komprimiert wurde. Stoff und Handlung gibt es also in Hülle und Fülle, und wenn schon der Werdegang Anakin Skywalkers, der später zu Darth Vader werden soll, für volle Kinosäle gesorgt hat – warum könnte das nicht auch Coriolanus Snow gelingen, der anfangs noch als rechtschaffener und moralisch gepolter Student, allerdings nicht ohne Eitelkeiten und narzisstischem Ehrgeiz, auf eine politische Karriere spekuliert. Was aus ihm werden wird, ist klar. Wie es dazu kommt – wie sich Gutes in Böses wandeln kann und was für Parameter es dazu braucht – entbehrt nicht ein gewisses Interesses. Somit ist die charakterliche Entwicklung das Um und Auf eines Film, der anfangs jede Menge bekannter Versatzstücke bemühen muss, um seinem Publikum ausreichend Fanservice zu bieten. Längst ist in Panem wieder alles im Argen, und die Spiele mögen beginnen.
Peter „Tyrion Lannister“ Dinklage und Viola Davis als fiese Medienhexe veredeln wie schon seinerzeit Philipp Seymour Hoffman oder Woody Harrelson eine Young Adult-Dystopie, die diesmal dank einer in ihrem Enthusiasmus ordentlich ansteckenden Rachel Zegler fast schon den Touch eines Musicals besitzt. Muffel dieses Genres können sich aber beruhigt zurücklehnen, denn die wenigen Songs gehen ins Ohr und Zeglers Stimme begeistert. Newcomer Tom Blyth, der den jungen Snow verkörpert, muss seine Metamorphose zum Ungeheuer erstmal stemmen – gegen Ende schwindet seine Kraft, so auch die Stringenz einer durchaus packend erzählten Politthriller-Romanze, die nach dem erwarteten Hungerspiele-Showdown in alle Richtungen zerfasert. Zwar sind nach wie vor Snow und Lucy Gray Bird im Spiel, doch wirken so manche Eckpunkte der Handlung aufgesetzt. Das ganze Szenario will kein Ende nehmen, wie gesagt: es sind 600 Seiten Buch, da müssen noch einige Staatsfeinde am Hanging Tree aufgeknüpft und der bereits bekannte Song gleichen Titels spotttölpelgleich von den Dächern gepfiffen werden. Verrat und Intrigen erschüttern das Vertrauen, Blyths Snow setzt Taten, denen der Beweggrund fehlt. Etwas konfus wirkt das Ganze, doch Zegler hält stets ihre Mitte – sie ist das herausragende und sturmfeste Zentrum des Films, der ohne sie wohl besser als Serien-Spinoff geeignet gewesen wäre.
Letzten Endes aber ist Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes – eine überraschend grundsolide Antagonisten-Genese. Die Perfidität eines postapokalyptischen Faschismus verträgt sich nach wie vor gut mit dem Narrativ einer unmöglichen Zweisamkeit, solange eine(r) davon moralisch integer bleibt.
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