Vergangenheitsbewältigung nach Schema F
Von Michael MeynsSeit Jahrzehnten setzt sich die deutsche Gesellschaft und damit auch das deutsche Kino mit seiner Vergangenheit auseinander – speziell natürlich mit dem Dritten Reich und dem Holocaust. Die Menge an Filmen zum Thema ist kaum zu zählen. Aber ob diese Art der Vergangenheitsbewältigung wirklich einen positiven Effekt hatte und hat, darüber ließe sich wohl gerade angesichts des wiedererstarkenden Antisemitismus in den vergangenen Monaten streiten. Eine weitere Variation des Themas liefert nun das sentimentale Roadmovie „Treasure“, das einen Holocaustüberlebenden und seine amerikanische Tochter bei einer Rückkehr in seine polnische Heimat zeigt. Basierend auf einem autobiografischen Roman der australischen Journalistin Lily Brett, inszeniert Julia von Heinz einen jener Filme, die gerne als „wichtig“ bezeichnet werden, sich zugleich aber davor scheuen, künstlerische Wagnisse einzugehen.
Polen im Jahre 1991, nach dem Ende des Kalten Krieges öffnet sich der Eiserne Vorhang. Auch die jüdisch-amerikanische Journalistin Ruth Rothwax (Lena Dunham) will die Gelegenheit nutzen, um endlich Antworten über ihre Vergangenheit zu erhalten. Zusammen mit ihrem Vater reist sie in dessen alte Heimat, wo Edek (Stephan Fry) und seine vor einem Jahr verstorbene Frau 1940 vertrieben und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden. Auch dorthin führt das ungleiche Tochter-Vater-Duo die Spurensuche, auf der sie in Edeks Kindheitswohnung in Łódź auf unfreundliche Pol*innen treffen, während ihr Fahrer Stefan (Zbigniew Zamachowski) ihnen hausgemachte polnische Köstlichkeiten serviert…
Kann Kunst positiv auf das Verhalten von Menschen einwirken? In den vergangenen Monaten, seit dem Massaker der Hamas und zunehmenden antisemitischen Vorfällen in Deutschland, wurde diese Frage an die Kunst und damit nicht zuletzt ans Kino gestellt – also an jene Kunstform, die durch ihre Visualität und ihren Überwältigungscharakter besonders geeignet scheint, Positives wie Negatives zu bewirken. Doch ob das in Bezug auf die in Deutschland so schwierige Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, den Gräueln des Zweiten Weltkriegs und besonders dem Holocaust wirklich positive Effekte hat, darf man bezweifeln. Ansonsten hätte die seit Jahrzehnten andauernde filmische Auseinandersetzung mit dem Thema ja schon dazu geführt, dass die deutsche Gesellschaft frei von Antisemitismus wäre. Oder wäre ohne die vielen Filme vielleicht alles noch schlimmer?
Wie so viele Filmemacher*innen ihrer Generation fühlt sich auch die 47-jährige Julia von Heinz der Vergangenheit verpflichtet. Schon ihr dritter Spielfilm „Hannas Reise“ erzählte von einer jungen Deutschen, die ein freiwilliges soziales Jahr in Israel verbringt. Einige Jahre später drehte von Heinz den autobiografischen Film „Und morgen die ganze Welt“, der sich mit linkem Widerstand gegen Neonazis beschäftigte. „Treasure“ möchte von Heinz deshalb als Abschluss einer losen Trilogie verstehen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Vergangenheitsbewältigung beschäftigt. Dass dabei ein Roman als Vorlage diente, mag erklären, warum sich vieles an diesem Film so bekannt, so generisch, so klischeehaft anfühlt. Wie Karikaturen wirken viele Figuren, von der selbstgefälligen jungen Amerikanerin Ruth, die glaubt, alles besser zu wissen, über ihren jovialen Vater Edek, der sich schnell mit älteren Damen in Hotels anfreundet, bis hin zu den vielen Pol*innen, die vor allem ans Essen und Geld zu denken scheinen.
Die anti-polnischen Spitzen des Romans, der in Polen zum Teil scharf kritisiert wurde, hat von Heinz zwar entschärft, dennoch muten gerade die Bewohner*innen der alten Wohnung des Vaters mehr als befremdlich an: Eine polnische Großfamilie hat sich dort fast schon eingenistet und streitet nun jedes Wissen über die jüdischen Vorbesitzer ab (um im selben Moment das Teeservice aus Edeks Kindheit feilzubieten). Während Ruth glaubt, nur mittels konkreter Orte und Dinge Zugang zur Vergangenheit zu bekommen, verweigert sich Edek anfangs komplett. Er möchte Polen lieber früher als später wieder verlassen. Dass es nicht die eine richtige Form der Erinnerung gibt, werden beide im Laufe ihrer Reise verstehen, nach emotionalen Momenten auf den Stationen der Erinnerung. Und damit auch jeder Zuschauer und jede Zuschauerin auf der Erkenntnisreise mitgenommen wird, lässt von Heinz die Geigen jaulen und in Auschwitz eine Fremdenführerin die Ausmaße der Vernichtung aufzählen, als würde man sich in einem Vortrag befinden.
Selbst, dass Auschwitz 1979 in die Liste der Welterbestätte der UNESCO aufgenommen wurde, findet Erwähnung. Nur in ganz wenigen Momenten verlässt „Treasure“ diesen didaktischen Erklärmodus – und das ist dann vor allem Stephen Fry zu verdanken. Dessen Vorfahren mütterlicherseits waren ungarische Juden, etliche von ihnen wurden in Auschwitz ermordet, was den Szenen, in denen Edek sich endlich der Erinnerung an seine Vergangenheit stellt, fast autobiografischen Züge verleiht. Schade, dass sich solche berührenden Momente zwischen allzu plakativen Szenen verlieren, in denen einmal mehr die Vergangenheit bewältigt wird. „Du kannst von dieser Katastrophe nicht genug bekommen“, sagt Edek einmal zu Ruth, einen Satz, den man auch dem deutschen Kino und seiner stets bemühten, aber meist wenig künstlerischen Beschäftigung mit Drittem Reich und Holocaust vorhalten könnte.
Fazit: Das Beschäftigen mit der deutschen Vergangenheit ist fraglos wichtig – aber das gilt nicht unbedingt, wenn dabei so konventionelle, klischeehafte, didaktische Filme herauskommen wie „Treasure“.
Wir haben „Treasure“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.