WENN DAS DIE NACHBARN WÜSSTEN
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
Wenn ich schon vermute, dass die verschrobene Dame von vis a vis andauernd rüberäugt, werde ich mir a) entweder Vorhänge zulegen oder b) einfach die Jalousien runtertun. Kann ja kein Problem sein. Aber nein: aufgrund eines vagen exhibitionistischen Drangs sieht die Familie von gegenüber, die womöglich einige Geheimnisse birgt, keinerlei Notwendigkeit dazu. Ein höchst obskures Verhalten – und schon mal ein sehr offensichtlicher Fehler im von Schauspieler Tracy Letts verfassten Drehbuch, der auch hier – ohne in den Credits erwähnt zu werden – Amy Adams‘ Therapeuten gibt. Die wiederum leidet als Anna unter Agoraphobie und würde einen Lockdown überhaupt nicht spüren, gäbe es einen. Sie hütet also das Haus, und nicht nur die Wohnung, denn Adams besitzt eine mehrgeschossige Immobilie, in der gerade mal ein Junggeselle (Wyatt Russell aus The Falcon and the Winter Soldier) zur Miete wohnt. Adams Figur wirkt ziemlich durch den Wind – was sie den ganzen Tag macht, weiß keiner. Oder vielleicht doch – nämlich aus dem Fenster sehen und mit Fotoapparat und Binokular das Treiben im Haus gegenüber ausspionieren. Vielleicht ist es, so wie bei James Stewart aus Das Fenster zum Hof, einfach aus einer situationsbedingten Langeweile heraus, die sie vors Fenster bannt. Eine kleine Abwechslung bietet das Auftauchen des Sohnes von gegenüber und auch dessen Mutter, gespielt von Julianne Moore, die so wirkt als wäre sie auf einem glückseligmachenden Drogentrip – dauergrinsend und überdreht. Eines weiteren schönen Tages allerdings beobachtet Anna das Unvermeidliche: einen Mord an just jener Frau, die erst kürzlich zu Besuch war. Das passiert natürlich schön vor dem Fenster, damit die ganze Nachbarschaft das Ereignis mitbekommt. Schockschwerenot, die Polizei muss her! Und schon ist nichts mehr, weder die Wirklichkeit noch sonst was, wie es vorher war. Eigentlich kein Wunder, suhlt sich die Kinderpsychologin außer Dienst doch tagtäglich in einem Mix aus Wein und rezeptpflichtigen Tabletten, die additiven Alkohol grundlegend verneinen.
Hitchcock, schau runter! Wie sehr erinnert dich dieser Film wohl an deinen eigenen? Und für wie gut würdest du ihn finden? Du würdest vielleicht mal auf der Habenseite die wandelbare Amy Adams sehen. Das stimmt – als vom Schicksal gezeichnete, psychisch ziemlich in Mitleidenschaft gezogene Housesitterin wandelt sie durch ihre Gemächer, an der einen Seite die Katze, an der anderen das Weinglas. Die Grundlage für ein Kammerspiel mit doppeltem Boden wäre geschaffen. Auch all die anderen Co-Stars wie Gary Oldman, der gefühlt auch keine Angebote mehr ausschlägt wie seinerzeit Christopher Lee, liefern saubere Arbeit. Wofür sie sich jedoch bemühen, ist ein relativ überschaubares, wenn nicht gar enttäuschendes Soll. Dabei sitzt Joe Wright im Regiestuhl, von welchem man bereits einige souveräne Arbeiten kennt. Im Falle von The Woman in the Window ließe sich noch so gut Regie führen – es würde alles nichts helfen, wenn der Plot nicht will. Denn dieser hier bremst sich selbst aus. Das macht er, indem er nicht nur einen Psychothriller alter Schule erzählt (mit ganz eindeutigen, auch visuellen Referenzen an Hitchcocks Klassiker), sondern auch Amy Adams‘ Leidensgeschichte. Ein knackiger Thriller konzentriert sich auf den expliziten Schrecken seines Verbrechens und den nachhaltig verstörenden Folgen. The Woman in the Window tut sich schon von Beginn an schwer, dramaturgisch aufzuräumen, damit alles seinen Lauf nehmen kann. Stattdessen nimmt er den eigentlichen Storytwist vorweg, irgendwann in der zweiten Hälfte des Films, um dann nochmal einen weiteren, wenig plausiblen Twist zu bemühen, der das längst zum Stillstand gekommene Szenario noch retten soll.
Vor kurzem gab es einen ähnlichen Film – Stunde der Angst mit Naomi Watts. Auch sie psychisch sichtlich angeschlagen, verlässt sie die Wohnung nicht und fürchtet sich vor einem Serienkiller, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Hier arbeitet Alistair Bank Griffins ganz bevorzugt mit dem seelischen Dilemma der Protagonistin, während sich der Krimi-Plot begleitend unterordnet. Auch kein Meisterwerk, aber deutlich besser als dieses leider in den Keller krachende Konstrukt eines versuchten Selbstbeweises in Sachen Suspense.
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