TENƎꓕ: Ein Essay
TENƎꓕ ist ohne Zweifel Christopher Nolans ambitioniertestes Projekt, und das will was heißen, wenn man in seiner Filmographie Werke wie The Dark Knight, Inception oder Interstellar zu stehen hat. Über zehn Jahre hat der populäre Regisseur über die zentralen Grundmotive dieses Films gegrübelt, bevor er sich für weitere fünf Jahre ans Drehbuch setzte. Warner Brothers machte Nolans Gigantomie mit einem Budget von 225 Millionen US Dollar zum teuersten Originalfilm der Filmgeschichte, und geht damit Risiken ein, die auch ohne einer globalen Pandemie nicht gerade gering wären.
Immerhin konnte Warner seine Marketing-Millionen sparen, bewarb doch das Internet den Film besser als es jedes Studio hätte tun können. Tenet hätte Leuchtturmsymbolik, sei der Retter der ganzen Filmindustrie und allein schon wegen Christopher Nolan der heilige Gral der Filmgeschichte. Neben der Wiederbelebung der Kinos erhoffte man sich selbstverständlich einen anspruchsvollen Film, welcher die Hirne der Zuschauer schmelzen wird. Und was soll man sagen?
Nach einem knapp zwei monatigen Verschiebungskrimi, kommt der Film tatsächlich in die Kinos und polarisiert sofort, natürlich, es ist ja ein Nolan Film.
Es stellt sich heraus, dass Tenet sämtliche Erwartungen übertroffen hat, der Film ist verworrener und komplizierter wie man es sich nichtmal im Traum vorstellen können. Niemand, absolut niemand, kann von sich behaupten diesen Film nach dem verlassen des Saals verstanden zu haben, sei es akustisch oder (wie die Meisten) inhaltlich.
Christopher Nolan wirft mit diesem Film dem Zuschauer ein Puzzle hin, dessen Entschlüsselung offensichtlich nur er selbst mächtig zu sein scheint.
Dass der Zuschauer auch gar nicht die Aufgabe hat den Film zu entschlüsseln, macht Nolan schon am Beginn der Exposition mit dem Ausdruck: „Versuchen Sie es nicht zu verstehen, fühlen Sie es“ deutlich. Gefühlt die ganze Filmwelt stürzt sich jetzt auf dieses Zitat, doch sollte man sich von diesem Satz nicht angegriffen fühlen, man sollte ihn verinnerlichen. Viel zu viele Menschen versuchen den Film nachvollziehen und vergessen dabei ihn zu interpretieren, sie wollen den Film mehr verstehen und verweigern sich ihn zu fühlen.
Diese Reaktion ist wohl dem menschlichen Trotz zu verdanken, der gerade in unserer heutigen Gesellschaft verstärkt wird, und befiehlt stets das genaue Gegenteil von dem zu tun was einem gesagt wird.
Der postmoderne Mensch will nicht zugeben, dass andere (etwas anderes!) schlauer ist als er selbst, will sich nicht einer Autorität unterordnen, vor allem einem Film nicht. Filme sind in dieser Sicht wie Nutztiere für den Menschen: Es gibt sie jeder Art, die die uns bewegen, befriedigen oder belehren. Aber eins dürfen sie nicht, sie dürfen nicht schlauer als sein als wir.
Nolan versucht mit Tenet diese Grenze zu sprengen - und hagelt sich dafür reihenweise Kritik ein, der Film wird regelrecht zerrissen. Und warum? Weil wir verstehen wollen, anstatt zu fühlen.
Durch die sture Konzentration auf das Zusammensetzen der Geschichte, verlieren wir die zentralen Motive des Films aus den Augen. Wir verkennen, dass Tenet ein starkes Plädoyer für die atomare Abrüstung ist, wir erfassen nicht dass Tenet ein kräftiges Zeichen für Maßnahmen gegen den Klimawandel ist.
Nach Interstellar ist Tenet Nolans zweiter Film, in dem die Welt durch den Klimawandel untergeht, und das ist in Tenet keine kleine Randnotiz, sondern ein tiefes Dilemma, welches Protagonisten und Antagonisten definiert und polarisiert.
Der Film kritisiert, dass wir, die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, den Klimawandel freien Lauf gewähren lassen, Ozeane und Flüsse verdrecken und verrecken lassen und die Erde schließlich aufs Sterbebett bringen. Unsere Nachfahren, Tenet spricht von „einigen Generationen in der Zukunft“, werden vor den von uns irreversibel Naturellen Ruinen stehen, aber zum Glück entwickeln sie eine Technik, die sie aus der Misere bringt: Die Inversion.
die Menschen können einfach die Zeit zurückdrehen und die Fehler der Vergangenheit verhindern. Das ist genau diese Technik von der wir auch unserer realen Welt allzu oft hören. Personen, die die Gefahr des Klimawandels versuchen kleinzureden, werden oft mit den Worten zitiert „Die Leute in der Zukunft werden schon irgendwas erfinden was den Klimawandel aufhalten wird“. Tenet entwirft eine mögliche Technik (Inversion), die das bewerkstelligen könnte, wobei die Gefahr besteht, dass die Inversion dazu missbraucht werden könnte um die Menschheit zu vernichten.
Die Menschen der Zukunft haben also eine Technik erfunden, mit der sie gleichzeitig die Welt retten aber auch zerstören können, doch sind sie gezwungen die Inversion einzusetzen, um wenigstens den Hauch einer Chance auf ein Überleben zu haben, andernfalls wird der Klimawandel für sie die Vernichtung des Planeten übernehmen.
Dieses komplexe Dilemma verstehen die meisten Kinogänger nicht. Und warum? Weil sie versuchen etwas zu verstehen was gar nicht zu verstehen ist, sie versuchen ein Paradoxon zu entschlüsseln und vergessen dabei die Definition eines Paradoxon.
Zu viele Menschen versuchen zu viel zu verstehen und fühlen dabei zu wenig.
Zugegeben, es gibt noch einen anderen Aspekt der das Verinnerlichen der Klimakatastrophe als zentralen Handlungspunkt erschwert, nämlich die eklatanten handwerklichen Fehler des Films. Dabei ist ausdrücklich nicht die reine Geschichte, oder die Brillanten Schauwerte gemeint, sondern die Narrative und der Schnitt.
Tenet lässt sich grob in zwei unterschiedlich lange Teile einteilen. Die erste Teil umfasst ungefähr die ersten 60 Minuten, der zweite die restlichen 90 Minuten bis zum Ende. Der erste Teil ist eine Mischung aus Inception und Game of Thrones Staffel 7, nur schwächer.
Der Protagonist wird in die Welt von Tenet eingeführt, bekommt die Spielregeln erklärt und sucht sich wie in Inception sein Team zusammen damit es nach dem Ende des ersten Teils, welcher mit einer Mid-Act-Climax eingeleitet wird, im zweiten Teil ordentlich krachen kann. Trotz dem ähnlichen Aufbau, kommt Tenets Exposition keinesfalls an die von Inception ran, denn Tenet ist deutlich komplexer und vielschichtiger, es gibt viel mehr zu erklären, dabei verbittet sich der Film die Spielregeln eindeutig zu erklären. Das was erklärt wird, wirkt erzwungen und unübersichtlich. Das Problem liegt darin, dass der Plot hier im Grunde noch ganz simpel ist, die Handlung ist noch nicht vertrackt, die Inversion spielt noch keine Rolle. Hier muss man nichts verstehen, weil es im Prinzip nichts zu verstehen gibt, doch wird das Verfolgen der Handlung absichtlich behindert, in dem man durch Inszenierung und Schnitt den (noch) simplen Plot unnötig verkompliziert.
Die Figuren reisen wild hin und her, die Übergänge zwischen den Szenen existieren quasi gar nicht. Man springt in voller GoT S7 Manier von Handlungsort zu Handlungsort, quer über die ganze Welt. Schwach geschnittene Montagen lassen nicht den Eindruck erwecken, dass zwischen den Szenen viele Tagen vergangen sind.
Dazu kommt, dass die Hauptfigur schwach geschrieben ist, was John David Washingtons natürliches Charisma nur bedingt übertünchen kann.
Es scheint, als hätte sich Nolan beim Schreiben mehr auf das Austüfteln der vertrackten Geschichte des zweiten Teil und der Unterbringung seiner eindringlichen Gesellschaftskritik (Klimakatastrophe!) gekümmert und den ersten Teil als notwendiges Übel zwecks Exposition angesehen. Es ist verständlich, wenn einige Zuschauer hier abschalten oder darauf schließen, wenn es Fehler im ersten Teil gibt, muss es auch welche im zweiten Teil geben - aber das ist ein Trugschluss. Schon bald wird deutlich, dass der erste Teil lediglich als Set Up für das Pay Off Massaker im zweiten Teil dient.
Hier werden alle Kritikpunkte des ersten Teils wieder ausgebügelt, die Inversion beginnt zu eskalieren, und doch schreckt auch der zweite Teil einige Zuschauer ab, werden doch hier vermeintliche Plot Holes entdeckt, dem Film vorgeworfen inkohärent zu sein und sich nicht an seine eigenen Spielregeln zu halten. Der einzige Fehler liegt darin, dass sich diese Kritiker selbst nicht an die einzige relevante Spielregel halten, die der Film aufstellt: „Versuchen Sie nicht es zu verstehen, fühlen Sie es“. Es ist keineswegs faul von Nolan sich auf dieser Aussage auszuruhen, es ist faul sie zu verschmähen.
Man muss tatsächlich der Aussage folgen und versuchen es nicht zu verstehen, sondern zu fühlen. Dass hat nichts mit Entmündigung seitens des Films zu tun, sondern ist eine wichtige Warnung. Würde man nämlich noch im Saal, während der Film läuft, versuchen die Handlung zu entschlüsseln und zu verstehen, würde einem schnell durch Reizüberflutung die Birne rauchen, es würde zu Black Outs und Missverständnissen kommen, an deren Ende das vorschnelle Fazit „Film=Dumm“ steht.
Die Aussage hat auch nichts mit Verschleiern von Plot Holes zu tun, denn die verworrene Handlung ist bereits vollends entschlüsselt, im Internet verbreiten sich gerade Timelines und Handlungszusammenfassungen schneller als das Coronavirus.
Stattdessen muss man sich einfach zurücklehnen und den Film genießen, ihn fühlen, dann würde man erfolgreich die wahren Themen (Atomare Abrüstung&Klimawandel) aus dem Film erfolgreich herauserxerzieren können. Tenet ist wie erwartet anspruchsvoll, aber nicht nur das, er ist auch so unglaublich intelligent wie es kaum ein anderer Film ist.
Man versteht also mehr, wenn man nicht versucht etwas zu verstehen.
Diese Erkenntnis wird sich sicherlich in den nächsten Wochen/Monaten/Jahren durchsetzen, denn wie Interstellar ist Tenet seiner Zeit voraus, beide Filme sind wie guter Wein, sie reifen mit der Zeit. Der Grund warum sie so gut reifen ist schauerlich: Beide Werke warnen ausdrücklich vor der Gefahr des Klimawandels und rufen zum sofortigen Aktivismus auf. Wenn wir jetzt nicht handeln, dann wird unsere Zukunft wie in Interstellar oder Tenet dargestellt aussehen. Die Filme scheiterten an ihrer eigenen Intelligenz, das Publikum war fasziniert von dem Spiel mit der Zeit in den beiden Filmen, von der Emotionalität in Interstellar, von den Schauwerten in Tenet, das Publikum war so stark fasziniert von der Einzigartigkeit dieser Werke, dass es abgelenkt war von dem eigentlichen Grundmotiv. Die Zuschauer erkannten heute wie damals nicht, dass Christopher Nolan fast schon mit einem Megaphon bewaffnet vor der Leinwand stand und den Saal anschrie: „UNTERNIMMT WAS! DIE ZEIT LÄUFT AB!“.
Aber je brachialer die Zukunft auf uns zu rennt, je dünner unsere Luft wird, je seltener wir die Augen vor dem Klimawandel schließen können, desto mehr erkennen wir die Wahrheit hinter und den Wert von Interstellar und Tenet.
Was TENƎꓕ anbelangt, bleibt nur zu sagen, dass dieser Film ein Meisterwerk ist. Er ist zwar ein handwerklich durchwachsenes Meisterwerk, aber dafür ideell umso reicher.
Man muss ihn nur verstehen.