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Michael S.
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4,5
Veröffentlicht am 31. Juli 2020
Den etwas anderen Fernsehfilm machen - das wollen alle gern. Hier erweist es sich als Glücksgriff, Dramaturgie und Figurenzentriertheit aus Siegfried Lenz' posthum erschienenem gleichnamigen Roman zu übernehmen. Das sorgt unterm Strich nicht nur für bessere Dialoge, die selbst in bedeutungsschweren, vielschichtigen Sätzen nicht zu gewollt wirken, sondern gibt nahezu allen wichtigen Figuren ein glaubwürdiges Gesicht. So gut wie niemand ist nur Kanonenfutter für die moralische Botschaft des Drehbuchs. Der Kriegswahnsinn spricht für sich, ebenso die Tatsache, dass mit der Niederlage der Wehrmacht und dem Überlaufen zu den Siegermächten eben längst nicht alles ausgestanden ist. Die Erzählung von Kriegsbiografien über Systemgrenzen hinweg ist eine wichtige, nicht oft verfilmte Ergänzung entscheidender Wendepunkte der deutschen Geschichte. Es ist leicht und lehrreich, den Helden nach schlimmen Ereignissen ins bessere System zu entlassen, doch die Geschichte lehrt: nicht selten wird eine Diktatur mit einer anderen bekämpft.
Diese Vielschichtigkeit lauert stets unter der Oberfläche, ohne dass Lenz und Gallenberger es zu pentrant in Szene setzen müssten. Die Handlung bleibt immer nahe an ihren Figuren, seien es miese Kleingeister wie Unteroffizier Stehauf oder die in vergleichbaren Produktionen häufig belanglosen Kameraden und Leidensgenossen. Hier darf eine ganze Reihe fähiger deutscher Schauspieler zur Höchstform auflaufen, nicht zuletzt in den Nebenrollen. Rainer Bock, Bjarne Mädel (spielt natürlich einen Kabarettisten) und der wie immer starke Ulrich Tukur setzen wohltuende Akzente, während an anderer Stelle fähiges Personal wie Alexander Beyer und Jochen Nickel in kleinen Mini-Rollen verheizt wird, für die es keinen so großen Namen gebraucht hätte. Niewöhner und Urzendowksy bauen eine glaubwürdige Beziehung auf, umso tragischer ist es, wie unterschiedlich sich beide später entwickeln.
Unterm Strich ist "Der Überläufer" das vielleicht ausführlichste filmische Beispiel dafür, welche Verwüstungen der Weltkrieg in den Lebensläufen junger Menschen hinterließ, die erst an die Front eines sinnlosen Eroberungskampfes geschickt wurden und später im Namen des neuen Systems auch wieder denunzieren, lügen, wegschauen und sich anpassen sollten. Unter den deutschen TV-Events zur Zeitgeschichte jedenfalls ein Highlight, wie man es nicht jedes Jahr vorgesetzt bekommt.