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    Der seidene Faden
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der seidene Faden
    Von Carsten Baumgardt

    Im Sommer 2017 hat der dreifache Oscarpreisträger Daniel Day-Lewis (für „Mein linker Fuß“, „There Will Be Blood“ und „Lincoln“), seines Zeichens der vielleicht beste lebende Schauspieler, angekündigt, dass er aus „privaten Gründen“ im Alter von nur 60 Jahren seine beispiellose Karriere beendet. Aber all seinen Fans hat der notorische Wenigfilmer Day-Lewis noch einen letzten großen Kino-Auftritt hinterlassen und ihnen damit ein Abschiedsgeschenk beschert, das beispielhaft verdeutlicht, wie begnadet gut der in London geborenen Ire ist: In Paul Thomas Andersons meisterhaft gefilmtem Liebesdrama „Der seidene Faden“ brilliert Day-Lewis einmal mehr mit allergrößter Selbstverständlichkeit, wenn er als britischer Modedesigner-Zampano der 50er Jahre erstmals in seinem Leben die Kontrolle zu verlieren droht und sich in eine toxische Liebesaffäre stürzt, die sich zu einer existenziellen Krise auswächst.

    Zu Beginn der 50er Jahre ist Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis) der Zeremonienmeister der Londoner Haute-Couture-Szene. Als Stardesigner und Inhaber des Edellabels „The House Of Woodcock“, das er gemeinsam mit seiner rigorosen älteren Schwester Cyril (Lesley Manville) führt, wird er von der gehobenen Gesellschaft gefeiert und umgarnt. Woodcock entwirft die prunkvollsten und elegantesten Kleider der Stadt und gilt als begehrter Junggeselle. Mehr als ein paar Affären sind nicht drin, weil der dominante, kontrollsüchtige Reynolds sich niemals auf eine gleichberechtigte Partnerschaft einlassen würde - jedenfalls bis er die selbstbewusste Kellnerin Alma Elson (Vicky Krieps) trifft. Sie verlieben sich auf den ersten Blick ineinander und bald dringt Alma in das House Of Woodcock ein, erst als Muse für Reynolds’ Kreationen, dann als Liebhaberin. Das bringt nicht nur die streng durchgetakteten Alltagsroutinen des Modezars durcheinander…

    „Der seidene Faden“ ist natürlich viel mehr als ein simpel-schwärmerischer Ausflug in die Welt der flämischen Klöppelspitze, auch wenn Paul Thomas Anderson („Magnolia“, „Boogie Nights“) zunächst in aller Ausführlichkeit die Kunstfertigkeit des Nähens, Drapierens und Maßnehmens zelebriert. Aber dabei belässt es der Meisterregisseur selbstverständlich nicht und alsbald mündet sein detailbesessenes Porträt der Fashionelite im London der Nachkriegszeit in die Geschichte eines hoffnungslosen Kontrollfreaks, der jede Kleinigkeit nach seinen Wünschen gestaltet und umgesetzt haben will. Und dann erzählt Anderson von einer fetischistischen Liebesbeziehung zwischen zwei starken Persönlichkeiten, die sich gegenseitig nicht die Butter vom Brot nehmen lassen und in bizarren Ritualen zusammenkommen.

    Die seltsame Romanze verwandelt sich schließlich kaum merklich in einen verbittert geführten Existenzkampf mit offenem Ausgang. In extrem langsamem Erzähltempo, das an die getragene Schwere von Stanley Kubricks Vermächtnis „Eyes Wide Shut“ erinnert, wird hier gnadenlos um jede Kleinigkeit gezankt – sogar ein Verbalduell um die richtige Zubereitung von delikatem Butter-Spargel (Reynolds verabscheut zu viel Butter und schätzt die salzige Variante) mausert sich dabei zu einem dramatischen Höhepunkt. Die widerspenstige und fordernde Alma will sich einfach nicht in die ihr von Reynolds und der Gesellschaft zugedachte Heimchen-Rolle fügen und pocht unablässig darauf, auf Augenhöhe mit dem Meister zu agieren. Alma ist eine starke, moderne Frau in rückwärtsgewandter Umgebung, überzeugend konsequent gespielt von der Luxemburgerin Vicky Krieps („A Most Wanted Man“, „Die Vermessung der Welt“).

    Das permanente Abtasten zwischen den zwei eigensinnigen Liebenden nimmt vor allem Reynolds zwar tödlich ernst, aber gerade dessen Kontrollwahn und Empfindlichkeit karikiert Anderson immer wieder mit erstaunlich trockenem Humor: Als die lebensfrohe Alma morgens bei der Nahrungsaufnahme zu laut ist, tadelt er sie furchtbar genervt: „Das ist deutlich zu viel Bewegung während des Frühstücks.“ Ein zu krosses Stück Toast, das Alma geräuschvoll mit Butter bestreicht, ruiniert seinen Tag und beschert uns einen komischen Moment. Während sich die junge Frau nicht einschüchtern lässt, kostet es Reynolds sichtbar einige Anstrengung, die Etikette zu wahren. Es brodelt in ihm, doch seine vordergründige Höflichkeit gibt er nicht auf (wobei sie zuweilen arg arrogant wirkt). Er ist eine Primadonna, die aber nie laut wird. Alma versucht permanent, ihn aus der Reserve zu locken und seinen Panzer zu knacken, um an den wahren Reynolds heranzukommen, dabei schreckt sie auch vor radikalen Maßnahmen nicht zurück, die den Film im krassen letzten Drittel überraschend in eine komplett andere Richtung kippen lassen.

    Das virtuose Ringen um die Vorherrschaft in der Beziehung der beiden Protagonisten findet seine Entsprechung auf der formalen Ebene in Paul Thomas Andersons perfektionistischer Inszenierung: Der Regisseur ist in seinem ersten außerhalb der USA gedrehten Film (nämlich in London) zugleich auch sein eigener Chefkameramann und rückt seinen Figuren als solcher dicht auf die Pelle. Statt vertrauensvolle Nähe entsteht dabei bedrückende Enge und erst nach einer markanten Wendung bricht Anderson einmal aus diesem Schema aus und befreit über panoramahafte Bilder in verschneit-majestätischer Bergkulisse seine Protagonisten gleich mit. All das ist formal brillant, aber auch sehr kühl kalkuliert und etwas offensichtlich inszeniert. Paul Thomas Anderson hat sich spürbar ebenso akribisch in die Materie eingearbeitet wie sein überragender Star Daniel Day-Lewis (ihre zweite Zusammenarbeit nach „There Will Be Blood“) und beide zeigen sich als ähnliche Kontrollfreaks wie die Hauptfigur.

    Die Besessenheit ist Anderson und Day-Lewis jederzeit anzumerken, was dem Darsteller (der zur Vorbereitung sogar eine Art Schneider-Ausbildung absolvierte und sich als hochtalentiert erwiesen haben soll) besser zu Gesicht steht als dem Regisseur, der sich zuweilen in seinen perfekt durchkomponierten Bildkompositionen zu verlieren scheint. Jede Einstellung ist ein Augenschmaus, aber für Leidenschaft und Emotion bleibt eher wenig Platz, zumal keine einzige der Figuren Empathie zeigt. So ist das Kinoerlebnis „Der seidene Faden“ oft fast so wie das Betrachten eines wunderschönen Gemäldes, über dessen Hintergründe man nicht allzu viel weiß: Bewundert man dort den Pinselstrich und das Farbenspiel, sind es hier die superben schauspielerischen Leistungen und die handwerkliche Finesse, die uns in Staunen versetzen. Aber die porträtierten Menschen bleiben uns fremd.

    Fazit: Paul Thomas Andersons „Der seidene Faden“ ist ein kunstvolles, perfekt in Szene gesetztes und hervorragend gespieltes Liebesdrama mit viel unerwartetem Humor und wenig Leidenschaft.

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