„The pure always act from love.
The damned always act from love.”
- Oneohtrix Point Never - The Pure and the Damned (ft. Iggy Pop
Es ist eine uralte Debatte: Wo fängt moralisches Handeln an und wo hört es auf? Wann heiligt der Zweck die Mittel oder darf und kann er das überhaupt? Um diese Thematik medial zu reflektieren, kann man zwei Dinge tun. Entweder, man schenkt sich ein Glas Rotwein ein, greift gediegen zum Kautabak und liest mal wieder „Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ von Immanuel Kant, oder, die vermutlich weniger prätentiöse Möglichkeit, man schaut GOOD TIME von Ben und Josh Safdie. Berauschende Bilder, vereinnahmendes Schauspiel und ein packendes Thriller-Drama gibt es im Gegenzug für anderthalb Stunden Stress und Verzweiflung gratis dazu.
Die Handlung von GOOD TIME ist schnell erzählt. Der kleinkriminelle Connie (Robert Pattinson) und sein geistig beeinträchtigter Bruder Nick (Ben Safdie) werden nach einem chaotischen Raubüberfall von der Polizei gestellt. Connie kann fliehen, Nick wird gefasst und in ein Gefängnis gesperrt. Weil Connie fürchtet, dass sein Bruder dort keine Nacht überlebt, setzt er in den folgenden Stunden alles daran, an 10.000 Dollar zu kommen, um Nick frei zu kaufen und verliert sich dabei in einem immer tiefer werdenden Sumpf aus Gewalt, Betrug, Lügen und Gier.
Obwohl der Film als eine Art schauspielerischer Befreiungsschlag von Robert Pattinson beworben wird (durchaus berechtigt – dazu später mehr), liegt die Größte Stärke von GOOD TIME in seiner Ambivalenz. Der Film funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen und kann ohne Abstriche als Millieustudie, als gesellschaftskritische Satire, als philosophisch angehauchtes Drama oder als packender „On-the-run-Thriller“ gesehen werden - und er ist in allen Bereichen gleichermaßen konsequent. Immer wieder zwingen die Regisseure ihren Hauptdarsteller in Situationen, die mit simpelsten Mitteln Spannung erzeugen, den Zuschauer andererseits in knifflige moralische Kopfnüsse verwickeln und überdies hinaus viel über gesellschaftliche Missstände, insbesondere in den USA, zum Ausdruck bringen. „Wird er es rechtzeitig schaffen?“, „Wie kann er das rechtfertigen und wie weit darf man in einer solchen Extremsituation gehen?“ und „Liegt das Grundproblem in den wirkungslosen sozialen Hilfeleistungen, die die Menschen im Film an ihr Existenzminimum treiben?“ sind drei Kernfragen, die sich in nahezu jeder Szene überschneiden.
Das ist ein sperriges Konzept und liegt schwer auf den Schultern eines 100-minütigen Films, der unter einem unfähigeren Regisseur vermutlich zu einem dialoglastigen Arthaus-Schmöker von epochalem Ausmaß verkommen wäre. Zum Glück ist GOOD TIME anders. Die gehetzte Inszenierung vereint Inhalt und Form perfekt in grobkörnigen, teils regelrecht hässlichen, ab und zu gerade noch genug beleuchteten 35 mm- Bildern, die teils dokumentarisch, in anderen Szenen plötzlich wunderschön, jedenfalls immer ästhetisch die Neon-durchzogene Großstadtatmosphäre einfangen. Das Tempo ist meist rapide, entschleunigt aber in den richtigen Momenten, um bestimmten Charakteren, Entscheidungsmomenten oder einfach mal dem Zuschauer Zeit zu geben. Beiläufig huscht die Kamera während dieser Hetzjagd durch Wohnblocks, Seitenstraßen oder Apartements, die gefüllt von einem vielseitigen Elektro-Score viel erzählen, ohne dass darüber im Film ein Wort verloren werden muss. Selten fühlen sich Handlungsorte und Charaktere so real an, wie in GOOD TIME – und das selbst dann, wenn die offensichtliche Vorliebe der Filmemacher für Neonlicht und knallige Farben während einer Etappe in einer Geisterbahn regelrecht zelebriert wird.
Ein weiterer Aspekt, der darüber entscheidet, wie gut das übergroße Konzept in Good Time aufgeht, sind natürlich die Darsteller, die hier vor enorme Kraftakte gestellt werden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, dann doch noch ein paar Worte über Robert Pattinson zu verlieren. Mich persönlich musste der zu unrecht verurteilte Darsteller schon nach „Cosmopolis“ oder „Lost City of Z“ nicht mehr von seinem Talent überzeugen, dennoch liefert er in GOOD TIME ohne Frage die mit Abstand beste Performance seiner Karriere und eine der besten schauspielerischen Leistungen des Kinojahres 2017. Die Standing Ovations in Cannes galten überdeutlich ihm und das ist gut so. Dennoch rückt das zu Unrecht die nicht weniger großartige Leistung seines Leinwandpartners und Regisseurs Ben Safdie in den Hintergrund. Wann immer Nick auf der Leinwand zu sehen ist, spricht eine solche Verzweiflung, eine solche Wut über sich selbst und seine Ohnmächtigkeit gegenüber der eigenen Situation aus seinen Blicken, dass mir alleine in den Eröffnungsminuten des Films ein Schauer über den Rücken lief. Und dieses Gefühl bildet dann auch die Klammer des Plots, denn auch die Abschlussszene gehört ganz ihm und liefert einen bitterbösen, pessimistischen Kommentar über unsere Gesellschaft, der mich, so abgedroschen es klingen mag, noch lange Zeit beschäftigen wird.
Wenn dann währenddessen und einige Zeit später noch der großartige Credit-Song einsetzt und ein melancholischer, müder Iggy Pop mit wenigen Worten die Grenzen zwischen Liebe und Verzweiflung aufhebt, ist für mich völlig klar: GOOD TIME ist ein kleines Meisterwerk. Ein Film, der zeigt, ohne zu deuten, anregt, ohne zu belehren, spricht, ohne zu erklären und schön ist, ohne hübsch zu sein.