Der als Stunt Coordinator versierte David Leitch zeigt mit „Atomic Blonde“ sein Langfilmdebüt als Regisseur.
Berlin steht vor dem Fall der Mauer und eine Liste der in Ost und West eingesetzten Agenten des MI6 ist verschwunden. Auf die Wiederbeschaffung der Liste war die vom Kampf gezeichnete Lorraine Broughton (Charlize Theron) angesetzt. Sie schildert ihrem Vorgesetzten Gray (Toby Jones) und dem beisitzenden CIA-Mann Kurzfeld (John Goodman) die Ereignisse der letzten Tage.
Turbulenz von Beginn an heißt das Motto von David Leitch. Musik aus den 1980ern (meist Electro-Pop, NDW) begleiten das Publikum durch die einprasselnde Story, beginnend mit der Hymne „Blue Monday“ von New Order. „How does it feel?“ Wer die Musik mag und gegen Ende der 80er im wilden Alter war, hat mehr von dem Film, wenn auch die Titel nicht immer zur Situation passen. Zum optisch überzeugenden Farbschema gibt‘s Einblendungen im Sprayer-Style.
Bond kennt jeder, die Blonde muss sich erst profilieren. Das klappt nicht von Beginn an, denn zu viele Figuren werden über die Leinwand gehauen. Da sind der zwielichtige Kontaktmann David Percival (James McAvoy), der wertvolle Informant Spyglass (Eddie Marsan), der besondere Uhrmacher (Til Schweiger), die geheimnisvolle Französin Delphine (Sofia Boutella) sowie einige weitere mehr, die für Beschäftigung sorgen, vor allem die Russen mischen mit. Und wie es beim Agenten-Genre immer so ist, verhalten sich die überreichlich involvierten Personen lediglich mehr oder weniger seltsam und können in „Atomic Blonde“ überwiegend keine Persönlichkeit entfalten. Ausnahmen: Eddie Marsan ist wie so oft gut besetzt. Die berechtigte Angst um sein Leben nimmt man dem von ihm verkörperten Spyglass problemlos ab. David Percival ist trotz eines bemühten James McAvoy eine zu auffällige, ungreifbare Gestalt.
Unterm Strich dauert es zu lange, bis die Zuschauer mit der kühlen Blonden warm werden können. Ihr Ich bleibt Undercover. Wie sie zu dem wird, was sie ist, bleibt im Dunklen. Doch war es bei Ian Fleming’s berühmtem Doppelnull-Agenten nicht ähnlich? Erst „Casino Royal“ mit Daniel Craig erzählt, wie der britische Geheimagent seine Lizenz zum Töten erwirbt, „Skyfall“ zeigt etwas aus seiner früheren Vergangenheit. Sean Connery bestach zuvor durch seinen Charme, der Bond zum Leben erweckte. Etwas Bezauberndes hat die unnahbare Lorraine Broughton nicht, aber Charlize Theron strahlt die Coolness und Härte aus, die ihre Figur braucht, um das Kontrastprogramm von David Leitch zu bestehen. Die buntschrillen 80er des Westens und die heruntergewirtschaftete DDR mit ihren Trabis, Ladas, dem verfallenden Ost-Berlin und dem aufbegehrenden Volk stehen nebeneinander und geben der Geheimagentin ihr Kampfgebiet. Während sich die britischen und russischen Spione für Wissen und Gewissheit bekriegen, sind die Deutschen drauf und dran, die Mauer einzureißen. Diese Situation erzeugt eine Atmosphäre, der man sich nur schwer entziehen kann.
Und in diese Umgebung setzt David Leitch das, was er am besten kann: Kampfszenen. Unglaublich gut gestaltet, mit hervorragendem Schnitt und einem besonderen Gefühl für die Kamera lässt der Regisseur seine Protagonistin rasant, mit sichtbarer und fühlbarer Anstrengung agieren, für das Leben von Spyglass, für ihr eigenes und die Informationen. Jetzt reißt Lorraine das gefesselte Publikum doch noch mit. Ihre Nehmerqualitäten und auch die der Gegner sind genretypisch beachtenswert überdurchschnittlich, dennoch ist der gebotene Purismus dem Bond-Szenario mit der oft übertrieben wirkenden Artistik überlegen. Darum trinkt Lorraine Broughton den Wodka ohne Martini und braucht keine Gimmicks von Q. Auch die anderen Action-Sequenzen hat sich Leitch zur Herzensangelegenheit gemacht, was den Unterhaltungsfaktor immens steigert.
Der Kampf um eine Liste mit Namen ist nicht der neueste Einfall. „Skyfall“ löst das Problem der fehlenden Fülle mit dem Mantel von Bond’s Lebensgeschichte. „Atomic Blonde“ hält stattdessen einige Wendungen parat.
Filme um Agenten möchten unterhalten und markante Helden hervorbringen. „Atomic Blonde“ erfüllt diesen Wunsch. Die Unglaubwürdigkeit ist wie in der Reihe um James Bond vorprogrammiert und darf vom Publikum zugunsten der Belustigung ausgeblendet werden.