Das „Tatort“-Jahr 2014 mit insgesamt 36 neuen Krimis und der Rekordzahl von 150 Leichen war wie gewohnt eines mit Höhen und Tiefen: Mit dem herausragenden „Tatort: Im Schmerz geboren“ sendete die ARD im Oktober eine der besten Folgen aller Zeiten, und auch aus Bremen („Tatort: Brüder“) und München („Tatort: Am Ende des Flurs“) kamen in diesem Jahr echte Hochkaräter. Die schwachen Bodensee-Beiträge „Tatort: Todesspiel“ und „Tatort: Winternebel“ besiegelten das überfällige Aus von Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel), und mit den Berliner Hauptkommissaren Felix Stark (Boris Aljinovic) und Till Ritter (Dominic Raacke) verabschiedeten sich zwei langjährige Ermittler aus der Krimireihe. Während die Quotenkönige aus Münster in Sachen Zuschauergunst weiter einsam ihre Kreise ziehen, verzeichneten vor allem die bewusst auf die Jugend zugeschnittenen Folgen aus Hamburg (mit Til Schweiger und Fahri Yardim) und Erfurt (mit Friedrich Mücke, Benjamin Kramme und Alina Levshin) herbe Quoteneinbrüche. Stimmig abgerundet wird das „Tatort“-Jahr nun vom alteingesessenen Team aus München: TV-Regisseur Andreas Senn („Kein Entkommen“) inszeniert einen grundsoliden, unterhaltsamen Krimi, der beim Blick auf die Jahresbilanz noch knapp im oberen Drittel anzusiedeln ist.
Am Isarufer wird die Leiche des 14-jährigen Tim Kiener gefunden. Der Junge wurde aus nächster Nähe erschossen. Die Stelle am Fluss war einer seiner Lieblingsplätze – kurz vor seinem Tod war er hier noch mit seinen gleichaltrigen Freunden Hanna Leibold (Anna-Lena Klenke) und Florian Hof (Nino Böhlau) schwimmen gewesen. Die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) erfahren von Tims Mutter Klara (Caroline Ebner) und seinem Vater Stefan Kiener (Max Schmidt), dass der Schüler nebenher Geld mit der Entwicklung von Apps und Webseiten verdient hat. Die Computeranalyse ihres jungen Assistenten Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) bringt die Kommissare allerdings auf eine andere Fährte: Tim hat über eine kostenpflichtige Website mit Männern gechattet und dort freizügige Bilder und Videos von sich angeboten. Ist einer der Kunden Tims Mörder? Die Spur führt die Ermittler zu Familienvater Guido Buchholz (Maxim Mehmet), der allerdings ein Alibi vorweisen kann. Auch Fallanalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner) zweifelt an seiner Täterschaft…
Wenn es im „Tatort“ ums Internet und speziell um die sozialen Netzwerke geht, stehen die Filmemacher angesichts der breitgestreuten Zielgruppe vor einem kleinen Dilemma: Während das junge Publikum sich in den digitalen Welten meist besser auskennt als die Schauspieler und Drehbuchautoren, verstehen Teile der älteren Zuschauergeneration bei Fachbegriffen wie „IP-Adresse“ nur Bahnhof. Die Zusammenhänge müssen daher möglichst reibungslos in den Dialogen erklärt werden – und das klang in der jüngeren „Tatort“-Vergangenheit oft ziemlich hölzern. Im „Tatort: Das verkaufte Lächeln“ findet Drehbuchautor Holger Joos eine elegante Lösung: Er setzt den sympathischen Jung-Assistenten Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) vor den Rechner, der nicht nur im Handumdrehen Passwörter knackt und nebenbei auf der Konsole zockt (eine der spaßigsten Szenen des Films), sondern den ergrauten Kommissaren präzise und ungekünstelt erklärt, auf welchen Webseiten sich das Opfer herumgetrieben hat. Anders als in den Kölner „Tatort“-Beiträgen „Ohnmacht“ und „Wahre Liebe“, in dem Begriffe wie „Avatar“ oder „LOL“ dem offline lebenden Hauptkommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) ein Fragezeichen auf die Stirn zauberten, witzeln die Kommissare hier über moderne Begrifflichkeiten oder nicken einfach zustimmend. Ob sie gerade dazu gelernt haben oder sich in ihren Vermutungen bestätigt sehen, bleibt dabei ihr Geheimnis.
Dass der „Tatort: Das verkaufte Lächeln“ glaubwürdig und zeitgemäß rüberkommt, liegt aber auch an den hervorragenden Jungdarstellern, die bereits für Bora Dagtekins Publikumshit „Fack ju Göhte“ vor der Kamera standen: Anna-Lena Klenke überzeugt als freizügige Webcam-Lolita ebenso wie Nino Böhlau, der als emotional hin- und hergerissener bester Freund des Opfers die Schlüsselrolle des Films stemmt. Ein wenig blass bleibt im Vergleich Maxim Mehmet („Männerherzen“) als pädophiler Familienvater Guido Buchholz – was aber weniger an seinen schauspielerischen Qualitäten als an seiner eindimensionalen Rolle liegt. Wer auf kleine Jungs steht, trainiert natürlich auch Nachwuchskicker und geht mit ihnen duschen – so zumindest der klischeehaft-oberflächliche Ansatz der Filmemacher. Aufwühlender sind da schon Buchholz‘ Auseinandersetzungen mit seiner Ehefrau Julia (Katharina Spiering), die von den Online-Aktivitäten ihres Gatten ahnt und nicht glauben will, dass hinter dem liebevollen Vater ihrer zwei Töchter ein Pädophiler stecken soll. „Tatort“-Fans dürften zudem Probleme haben, in Mehmet nicht den treuen Kriminalassistenten Menzel zu sehen, den der Schauspieler seit 2008 im „Tatort“ aus Leipzig verkörpert.
Auch die Beweggründe, warum sich die Jugendlichen gegen Kreditkartenzahlung bereitwillig vor der Webcam ausziehen, hätte man noch ausführlicher ausarbeiten können: Während die finanzielle Not seiner alleinerziehenden Mutter Marina Hof (stark: Katharina Marie Schubert) die schwierigen sozialen Verhältnisse, in denen Florian aufwächst, greifbar macht, klingt die alleinige Sehnsucht nach mehr Taschengeld bei Hanna als Tochter wohlhabender Eltern schon weniger plausibel. Durch den angenehm hohen Miträtsel-Faktor hebt sich die 928. Ausgabe der öffentlich-rechtlichen Krimireihe allerdings wohltuend von den ziemlich vorhersehbaren „Tatort“-Beiträgen der Vorwochen ab: Wenngleich das Stammpublikum die Auflösung der Täterfrage erahnen dürfte, bieten deren tragische Konsequenzen doch die Gelegenheit für einen emotionalen und mitreißenden Showdown, bei dem Regisseur Andreas Senn das bis dato verhaltene Erzähltempo spürbar anzieht. Hier wäre sogar eine richtig dramatische Schlusspointe möglich gewesen – der Filmemacher zieht am Ende dann allerdings doch noch die Handbremse und entlässt sein „Tatort“-Publikum relativ sanft in die Sonntagnacht.
Fazit: Regisseur Andreas Senn inszeniert mit dem Münchner „Tatort: Das verkaufte Lächeln“ einen unterhaltsamen, authentischen Krimi, der das „Tatort“-Jahr 2014 trotz kleinerer Schwächen gelungen abrundet.