Ein deutscher Genre-Film hat den Weg ins Kino gefunden, „Die Vierhändige“ von Oliver Kienle ist angelaufen. Der Regisseur hat auch das Drehbuch verfasst.
Die ältere Schwester hält der jüngeren die Augen zu, als ihre Eltern von Einbrechern getötet werden. „Ich werde dich beschützen“, flüstert sie ihr ins Ohr. Jessica verfolgt ihr Versprechen zum Missfallen von Sophie obsessiv. Als 20 Jahre später die Mörder (Detlef Bothe, Agnieszka Guzikowska) aus dem Gefängnis entlassen werden, gerät die Situation der beiden (Frida-Lovisa Hamann, Friederike Becht) außer Kontrolle.
Der deutsche Genre-Film, es gibt ihn noch. Mit der Totgeburt „Stereo“ von Maximilian Erlenwein im Nacken verläuft sich der Kinogänger beinahe, wenn er auf den wenig umworbenen Dissoziations-Thriller „Die Vierhändige“ trifft.
Die Locations dürfen bestaunt werden, denn diese sind auffällig gut ausgesucht, mysterydüster beleuchtet und in originellen Einstellungen gefilmt. Nicht nur die Villa der Familie Tauber, die wie verloren und unwirklich auf einem Hügel neben einer riesigen Industrieanlage liegt, ist beeindruckender als manches Dracula- oder Fantasy-Schloss. Nahezu jede optische Ecke von Kienles Thriller ist darauf getrimmt, das Publikum immer tiefer in die schwer problembehaftete Welt der Verbrechensopfer zu ziehen. Da darf auch das typische Lampenflackern nicht fehlen. Untermalt mit dem aufwändig geschaffenen Score ist das ein wenig zu dick aufgetragen, aber dafür erstaunlich gleichmäßig, ohne Abstumpfungswirkung und nicht nur eingesetzt, wenn es darauf ankommt, auf bevorstehende Schockmomente einzustimmen. „Identity“ (2003) von James Mangold hat diese technischen Tricks offenbar nicht nötig. Das Motel in einer regnerischen Nacht und der starke Cast mit John Cusack und Ray Liotta sprechen für sich. Aber warum nicht arbeiten wie Darren Aronofsky („Black Swan“, „Mother“)?!
„Die Vierhändige“ ist nahezu blutfrei. Gleichwohl ist FSK 16 angesagt, denn die einfallsreiche Story um die Schwestern mit Kontrollwahn, Geldversteck, GPS-Verfolgung, Selbstfesselung, roher Gewalt und vieles mehr ist raffiniert verstörend erzählt, führt den Zuschauer herrlich an der Nase herum und gibt ihm nur wenige Möglichkeiten zum Luft holen.
Für Abwechlsung sorgt Kienles Idee, eine weitere Figur einzufügen. Martin (Christoph Letkowski) arbeitet im Krankenhaus. Er hilft über das Erlaubte hinaus und verliebt sich, aber in wen?
Die mit ihm geführten Dialoge sind nicht das Gelbe vom Ei. Der deutsche Genre-Film krankt oft an der glaubwürdigen Darstellung des Bösewichts. Während Kienle kein Problem damit hat, Detlef Bothe als Kriminellen herumlaufen zu lassen, ist Martin eben kein solcher und hat zudem einen weniger gewichtigen Ausschlag auf die Story, sodass er als gute Ergänzung passt.
Kienle hätte eine Liga höher mitspielen können, wenn er das Publikum näher an die Hauptfiguren herangelassen hätte. Doch das Konstrukt seines Films lässt dies nicht zu. Darren Aronofsky hat von Beginn an mehr über die konkurrierenden Identitäten verraten und mit "Black Swan" ein Meisterwerk geschaffen. Dennoch sollten sich Thriller-Fans „Die Vierhändige“ nicht entgehen lassen.